Physik der Bauklötze:Die Hochstapler

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Von wegen Kinderspielzeug: Die Wissenschaftler Mike Paterson und Uri Zwick rechnen mit moderner Mathematik vor, wie man aus Bauklötzen extreme Überhänge aufschichten kann.

Christopher Schrader

Es ist ein kurzer Rausch der Zerstörung, der jedes Jahr im November im Fernsehen zu sehen ist. In einer Halle fallen Millionen Domino-Steine der Reihe nach um. Ein Heer von jungen Leuten hat sie in wochenlanger Arbeit aufgestellt, eine schöne junge Frau stößt den ersten an und lässt der Schwerkraft ihren Lauf.

Für Mike Paterson ist das die reine Verschwendung. Hätte er die bei der letzten Domino-WM verwendeten 4,5 Millionen Steine und das Heer junger Leute zur Verfügung, was könnte er erschaffen!

Paterson, Informatik-Professor an der Universität im englischen Warwick, würde der Welt eine Skulptur schenken: Sie schwingt sich von einem einzelnen Dominostein in die Höhe, wölbt sich links und rechts fünf Meter vor und übertrifft die Höhe der Petronas Towers in Kuala Lumpur, ohne einen einzigen Tropfen Klebstoff.

Theoretisch jedenfalls.

Mike Paterson nämlich hat mit seinem Partner Uri Zwick von der Universität Tel Aviv die Wissenschaft der Hochstapelei entwickelt. Mit Methoden modernster Mathematik errechnen sie, wie sich Dominosteine, Bauklötze, Eiswürfel oder Ziegel auftürmen lassen.

Auch Spielkarten und selbst Münzen sind für diese Wissenschaft geeignet. Die beiden Informatiker betreiben ernsthafte Forschung, beweisen Sätze, reihen Definitionen, Lemmas und Theoreme aneinander, benutzen Summen- und Integralzeichen und notieren komplizierte Brüche. Und irgendwie soll das alles sogar anderen Forschern bei Aufgaben helfen, die gar nichts mit Bauklötzen zu tun haben.

Natürlich sehen beide ihre Forschung auch mit Augenzwinkern. Paterson nennt die Beschäftigung mit Bauklötzen "recreational math" (Erholungs-Mathematik). Und er räumt ein: "Es wäre ziemlich unpraktisch, nach unserem Verfahren ohne Mörtel ein Bauwerk zu errichten. Aber wer will, der kann natürlich". Die beiden Wissenschaftler rechnen hierzu aus, welche extremen Gebilde möglich sind.

Als mathematische Spielerei bewegt das Problem der Stapel seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Köpfe: Wenn man lauter identische Blöcke aufeinander schichtet, zum Beispiel von einer Tischkante aus nach außen, wie weit ragt das Bauwerk maximal über den Abgrund, ohne zu kollabieren?

56 Zentimter nach rechts, 3500 Kilometer in die Höhe

Die Antwort schien lange Zeit klar zu sein, sie ergab sich aus dem Bauprinzip. Der oberste Stein kann die Hälfte seiner Länge über den Abgrund strecken, dann liegt sein Schwerpunkt gerade über der Kante. Der zweite von oben vermag sich nur noch ein Viertel vorzuschieben, damit beide in Balance bleiben, der dritte ein Sechstel, der vierte ein Achtel und so weiter - dann bleibt der Stapel stabil.

Auf diese Weise lassen sich in der Gedankenwelt beliebig große Überhänge erreichen. Aber es geht sehr langsam: Einen Überhang von einer Blocklänge erreicht man mit vier Steinen, zwei Blocklängen mit 31, drei Blocklängen mit 227, fünf mit mehr als 22.000 und zehn mit 272 Millionen.

Übersetzt in reale Domino-Steine wären das 56 Zentimeter weit nach rechts über dem Abgrund - aber 3500 Kilometer in die Höhe. Für sehr große Zahlen lässt sich der Überhang solcher "harmonisch" genannter Stapel mit einer einfachen Näherung beschreiben - er entspricht der Hälfte des natürlichen Logarithmus der Zahl der Bauklötze.

Paterson und Zwick fragten sich nun, ob es nicht effektiver gehen kann. Zunächst einmal verabschiedeten sie sich von dem Prinzip, in jeder Lage nur einen Klotz zu verwenden, außer an der Basis. Das erlaubte es ihnen, weiter über den Abgrund zu bauen, indem sie am anderen Ende Gegengewichte einführten. Diese sogenannten "spinalen" Stapel, Konstruktionen mit Rückgrat, kommen etwa doppelt so weit wie die harmonischen.

Diamanten brauchen Ballast

So lässt sich zum Beispiel schon mit 100 Blöcken ein Überhang von 3,7 Blocklängen erreichen. Bei dieser Konstruktion bilden allein 65 der Klötzchen zwei massive Gegengewichte. Diese Gebilde sind sogar variabel. "Die rechte Kante muss zwar so bleiben wie vorgegeben", sagt Paterson, "aber beim Gegengewicht ist es egal, ob die Blöcke gerade oder im Zickzack übereinander liegen."

Das Verfahren teilt aber einen Nachteil mit den harmonischen Stapeln. Vor dem Bauen ist eine genaue Planung nötig. Bei beiden Methoden wird die Position jedes Bausteins anhand der Gesamtzahl festgelegt - von rechts oben nach links unten. Erst daraus ergibt sich ein Plan, dem man von unten nach oben folgt. Niemand kann mit einem ungezählten Haufen von Klötzen beginnen und einfach schauen, wie weit er kommt.

Das ist mit dem Bauprinzip der "Diamanten" möglich. Hier liegen die Klötze wie in einer Mauer übereinander, immer um die Hälfte ihrer Länge gegeneinander verschoben. Der Konstrukteur fängt mit einem Stein unten an, dann kommen Reihen mit zwei, drei, vier und wieder drei, zwei, einem Stein.

Solche Figuren bestehen immer aus einer Quadratzahl von Steinen, genauer dem Quadrat der Zahl der Steine in der mittleren Reihe. Davon die Hälfte strecken sie über den Abgrund. So könnte man, jedenfalls auf Papier, mit 100 Klötzen einen Überhang von fünf Längen erzeugen. Dabei stiege der Überhang proportional zur Quadratwurzel der Klotz-Zahl an, sehr viel schneller als mit dem natürlichen Logarithmus.

Doch Paterson und Zwick erkannten bald, das Diamanten mit 25 oder mehr Klötzen instabil sind. Beim Bauen rissen die schweren Flanken der Konstruktion ein, auch der Computer erklärte die Stapel für unbeständig: Die Informatiker ließen ihn nachrechnen, wie sich Kräfte und Drehmomente verteilen. Große Diamanten brauchen daher Ballast auf dem obersten Klotz. Dort müssen so viele Elemente aufgeschichtet werden, dass der Diamant weniger effektiv Überhänge erzeugt als ein spinaler Stapel.

Parabel als Erfolgsmodell

Das Prinzip des Mauerns aber führte Paterson und Zwick zu ihrem großen Erfolgsmodell: der Parabel. Deren rechte Kante schiebt sich nicht monoton immer weiter über den Abgrund, sondern springt immer wieder vor und zurück. Jeder Fortschritt um eine halbe Blocklänge muss mit einer stetig steigenden Anzahl von Reihen abgesichert werden.

Die Zahl dieser Stabilisierungslagen wächst doppelt so schnell wie die Zahl der Klötze pro Reihe, was dem Gebilde seine charakteristische Form gibt. Berechnen lässt sich der Überhang ungefähr als 0,57 mal die Kubikwurzel aus der Stein-Zahl. Um einen Überhang von 15 Blocklängen zu produzieren, genügen bei einer Parabel 17.111 Steine, ein spinaler Stapel braucht hierzu etwa 1,2 Millionen und ein harmonischer fünf Billionen Klötze.

Die Parabel ist also ein echter Fortschritt gegenüber anderen Verfahren. Mathematisch gesprochen sogar ein exponentieller: Wenn sich die Menge der Klötze verachtfacht, hat eine Parabel doppelt so viel Überhang. Bei spinalen Stapeln kragt er um etwas mehr als zwei Blocklängen weiter aus.

Inzwischen haben Paterson und Zwick mit Kollegen auch bewiesen, dass der Überhang mit keinem Bauprinzip substantiell schneller wächst. Als obere Grenze nennen sie das sechsfache der Kubikwurzel der Anzahl verbauter Steine.

Der Unterschied zur Parabel besteht nur noch in einem Faktor zehn. Das ist für die mathematische Diskussion irrelevant, aber entscheidend für Rekordversuche in der Realität.

Ideale Architektur für bis zu einhundert Klötze

Paterson und Zwick haben nur eine begrenzte Zahl konkreter Konstruktionen untersucht. Für bis zu einhundert Klötze kennen sie die ideale Architektur: Es sind stets spinale Stapel oder Varianten davon. Erst bei "einigen hundert Bauelementen", sagt Uri Zwick, wird die Parabel die bessere Konstruktion.

Auf der Suche nach weiteren Designs haben sich die Forscher inzwischen von der Voraussetzung verabschiedet, dass alle Bauklötze gleich schwer sind. Darf der Computer ihre Massen variieren, stößt er auf "Vasen" oder "Öllampen", die extreme Überhänge ermöglichen. Um sie mit realen Elementen nachzubauen, müsse man die Konstruktion nur leicht variieren, sagt Zwick, "indem man Gewichte auf die oberen Kanten legt."

Welchen Einfluss auf die reale Architektur Paterson und Zwick nehmen könnten, haben sie noch gar nicht erkundet. Eines ist klar: Benutzt man zwei Überhänge, die sich einander zuneigen und einen Bogen bilden, verbaut man viel mehr Material als in einem echten Bogen. Diese Konstruktion hatten schon die Römer perfektioniert: Schräg angeschnittene Steine werden mit einem Schlussstein so zusammengefügt, dass die Konstruktion die herrschenden Kräfte gleichmäßig in sich verteilt.

Griechen und Maya kannten keine echten Bögen

"Dazu benötigt man Steine mit Reibung, die auch ein gewisses Gewicht haben, um sich selbst zu stabilisieren", sagt Mike Paterson. "Wir rechnen aber mit beliebig leichten Steinen ohne Reibung." Der Vorteil seiner Konstruktion ist, dass die so entstehenden Bögen keine seitlichen Kräfte auf Wände ausüben. Kirchenmauern hingegen haben an der Außenseite massive Stützen, um die Schubkräfte der echten Bögen über dem Innenraum abfangen.

Ob vielleicht antike Architekten ihre Ideen vorweg genommen haben, müssen die Informatiker noch untersuchen. Die Griechen zum Beispiel kannten wie die Maya in Mittelamerika keine echten Bögen, sie bauten sogenannte Kraggewölbe. Dabei lehnen sich schräg ansteigende Mauern oben gegeneinander.

Stabilisiert wird die Konstruktion durch Material, das die Steine von außen herunterdrückt. Im Sinne der Stapel-Theorie könnte das als Gegengewicht gelten. So sind auch Hallen entstanden, die sich in sanfter Linie nach innen wölben, wie das "Schatzhaus des Atreus". Diese Grabkammer liegt im griechischen Mykene unter einem Hügel. "Die müssten wir uns einmal genauer ansehen", sagt Uri Zwick.

© SZ vom 2.2.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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