Pharmaindustrie:Streit um Erstattung von Insulinanaloga

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"Scheininnovationen" ohne Zusatznutzen oder Wundermittel: Diabetes-Patienten im Sperrfeuer zwischen Krankenkassen und Pharma-Lobby.

Werner Bartens

Die Patienten wehren sich. Zum Beweis präsentierte der Deutsche Diabetiker Bund (DDB) Anfang Juli als "stolzes Zwischenergebnis" 180.000 Unterschriften. Die Aktion soll Druck aufbauen, damit Analog-Insuline für Diabetiker weiterhin von den Krankenkassen erstattet werden.

Das Lager einer Apotheke. Ob die Einführung neuer Medikamente wirklich den Patienten hilft, ist im Fall von Insulinanaloga umstritten. (Foto: Foto: AP)

Ein zusätzlicher Nutzen der teuren Medikamente gegenüber herkömmlichen, billigeren Insulinen ist jedoch nicht wissenschaftlich belegt. Die Entscheidung über die weitere Erstattung trifft der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) an diesem Dienstag.

Zeitweise schrieben zehn Diabetiker täglich an Peter Sawicki, den Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Sawickis Institut hat die Analog-Insuline wissenschaftlich beurteilt und den fehlenden Zusatznutzen aufgedeckt.

Bei der Beurteilung wurde ein besonderes Augenmerk auf die Lebensqualität der Patienten gerichtet, denn dem Analog-Insulin wird immer wieder der Vorteil nachgesagt, dass es ohne festen zeitlichen Abstand zu den Mahlzeiten gespritzt werden könne.

Reaktionen der Patienten: aggressiv, verbittert, traurig

"Das ist bei Humaninsulin aber ebenso wenig nötig", sagt Sawicki. Die Hersteller hätten entsprechend gute Studien zu angeblichen Vorteilen von Analog-Insulinen nie nachgereicht.

Als das Gutachten im Februar veröffentlicht wurde, demonstrierten Diabetiker vor dem Gesundheitsministerium. Und Peter Sawicki bekam jene Briefe - aggressive, verbitterte, traurige.

Manche Patienten schrieben, man solle sie gleich umbringen, das wäre das billigste. "Dass Firmen schreien, war absehbar", sagt Sawicki, der zuvor Chefarzt für Diabetologie war. "Aber die Briefe der Patienten, das hat mich schon getroffen."

Pharmawerbung verspricht Wunder

Die Patienten waren offenbar den PR-Kampagnen der Pharmaindustrie erlegen. Liest man die Broschüren der Hersteller, hat man den Eindruck, die Kunstinsuline seien eine Art Wundermittel.

Die Zuckerkranken, so suggeriert die Werbung, könnten essen, was und wann sie wollten, weil sich mit den Analog-Insulinen der Blutzuckerspiegel in allen Lebenslagen optimal regulieren lasse.

Manche Patienten sind - dezent ausgedrückt - beeinflusst und wollen sich ihr vermeintliches Rundum-sorglos-Insulin nicht nehmen lassen. Sämtliche Pharmafirmen, die Analog-Insuline herstellen, sind Sponsoren des Deutschen Diabetiker Bundes, der ältesten und größten Selbsthilfegruppe für Zuckerkranke.

Die Industrienähe hält den DDB-Vorsitzenden Manfred Wölfert jedoch nicht davon ab, die "rote Karte" zu fordern "gegen die Ausgrenzung von Patienten, wenn es um Weichenstellungen in der modernen medizinischen Therapie geht".

Doch fehlt Zuckerkranken wirklich etwas, wenn ihnen keine Analog-Insuline mehr verschrieben werden?

"Mich berührt es peinlich, wie die Pharmaindustrie versucht, Patienten zu beeinflussen", sagt der Bremer Radiologe Till Spiro, Ärztevertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss. "Von gewissenhaften Diabetikern weiß man, dass sie prima mit herkömmlichen Humaninsulinen eingestellt sind."

Leonhard Hansen, der auch die Ärzteseite im Ausschuss vertritt, sieht das ähnlich: "Patienten müssen bekommen, was sie brauchen - aber auch nur das. Scheininnovationen brauchen sie nicht." Optimaler als Humaninsulin könne ein Wirkstoff nicht sein, findet Hansen - schließlich ist es exakt der Stoff, der Diabetikern fehlt.

Und Spiro betont, dass die Entscheidungen des G-BA so exzellent wissenschaftlich vorbereitet würden, dass es dort fast nie Dissens zwischen Kassen- und Ärzteseite gebe.

Keine Belege für die Vorteile der Insulinanaloga

Nach dem aktuellen Stand des Wissens müsste der Beschluss des G-BA am heutigen Dienstag eindeutig ausfallen. Denn der evidenzbasierte 124-seitige IQWIG-Bericht kommt zu einem klaren Ergebnis. "Es existieren keine überzeugenden Belege für eine Überlegenheit kurz wirksamer Insulinanaloga gegenüber Humaninsulin hinsichtlich patientenrelevanter Therapieziele bei der Behandlung des Typ2 Diabetes mellitus", heißt es dort etwas sperrig.

"Hinsichtlich ihrer langfristigen, potenziellen, nützlichen und schädlichen Effekte sind kurz wirksame Insulinanaloga nicht ausreichend untersucht." Für die Analyse kamen nur methodisch hochwertige Studien in Betracht; viele industrieabhängige Untersuchungen genügten diesem Kriterium nicht.

Milliardengeschäft Insulin

Normalerweise müsste es das Aus für ein Arzneimittel bedeuten, wenn es so beurteilt wird. Trotzdem schwelt der Streit weiter. Pharmafirmen und Ärzteverbände machen mobil, seit der G-BA im vergangenen Jahr das IQWIG beauftragt hatte zu prüfen, ob ein zusätzlicher Nutzen der Analog-Insuline den höheren Preis rechtfertigt. Die Behandlung eines Diabetikers mit herkömmlichen Insulinen kostet 600 Euro im Jahr, die Therapie mit Analog-Insulin 1000 Euro.

Weltweit setzt die Pharmaindustrie jährlich sieben Milliarden Euro mit Insulin um, drei Milliarden davon in Europa. Ungefähr die Hälfte des Umsatzes in Europa - also etwa 1,5 Milliarden Euro - gehen auf Analog-Insuline zurück, obwohl die Arzneigruppe erst seit 1996 auf dem Markt ist.

In Großbritannien, Frankreich und Skandinavien machen Analoga 70 Prozent oder mehr unter den Insulinen aus. In Deutschland betrug der Marktanteil 2005 etwa 43,3 Prozent.

Diese Einnahmen der Pharmaindustrie sind durch das IQWIG-Gutachten und eine womöglich negative Entscheidung des G-BA massiv gefährdet. "Auch Ärzte reagieren merkwürdig auf unser Gutachten", sagt Peter Sawicki. "Sie geben uns zwar Recht, aber sie schätzen uns nicht, weil durch uns ihre Kompetenz angezweifelt wird." Schließlich werden Analog-Insuline seit Jahren verschrieben.

Jeder Hausarzt kennt einen Diabetiker, der mit Humaninsulin gut zurechtgekommen ist. Nach einem Klinikaufenthalt, der nichts mit dem Diabetes zu tun hatte, ist er auf Analog-Insuline umgestellt. "Da braucht man als Hausarzt viel Rückgrat, um das wieder rückgängig zu machen", sagt Leonhard Hansen.

Sawicki, Hansen und Spiro erleben seit Jahren, was Lobbyarbeit im Gesundheitswesen bedeutet: Patientenvereinigungen mit engen Industriekontakten, firmengesponsorte Fachblätter, mit Arzneiherstellern verbandelte Ärzteorganisationen. Manchmal werden die Entscheider auch direkt angegangen: So bekam das G-BA-Mitglied Spiro im Juni Post von der ihm unbekannten "GO Medizinische Marktforschung" in Frankfurt.

Eminenz statt Evidenz

Spiro wurde umschmeichelt und um ein einstündiges Telefongespräch gebeten ("Ich bitte Sie so eindringlich um dieses Interview, weil Sie in so vielen Bereichen des Gesundheitswesens tätig sind", "Sie sind sozusagen prädestiniert für dieses Gespräch"). "Selbstverständlich würden wir ihren Zeitaufwand angemessen vergüten", hieß es unmissverständlich in dem Schreiben.

Anderswo erfolgt die versuchte Einflussnahme verdeckter. Nachdem das IQWIG-Gutachten veröffentlicht war, legte der Vorstand der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) Stellungnahmen dazu vor. Die Ärzte verfuhren nach dem Prinzip Eminenz statt Evidenz: "Aus Sicht vieler Diabetologen und auf Grund deren persönlicher Erfahrung" plädierte der DDG-Vorsitzende Wolfgang Kerner für die Analog-Insuline.

In einen Brief an das Gesundheitsministerium protestierte Kerner gleichzeitig dagegen, dass der Vorstand des DDG für die Stellungnahme mögliche Industrieabhängigkeiten offen legen sollte und berief sich stattdessen auf die Einigkeit des Vorstands.

"Ich hoffe, dass wir mit unserem Beschluss endlich Boden unter die Füße bekommen gegen das Imperium der Pharmaindustrie", sagt G-BA-Mitglied Hansen. "Etwa 40 Prozent des Gewinns der Firmen werden ins Marketing gesteckt, nicht in die Forschung - und dann schwärmen in Deutschland 18000 Außendienstler aus, um Ärzte zu beeinflussen."

© SZ vom 18.07.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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