Pädagogik:"Jungen sind eher konkurrenzorientiert"

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Weil ihr evolutionäres Erbe Jungs heute Probleme bereitet, fordert die Psychologin Doris Bischof-Köhler in SZ Wissen eine jungengerechte Schule.

Simone Kosog

Doris Bischof-Köhler ist Professorin für Psychologie an der Universität München. Ihr Fachgebiet ist die Entwicklungspsychologie. Die Frage, wie sich mentale Fähigkeiten und Verhaltensweisen bei Kindern entwickeln, hat die 1936 geborene Forscherin um den Aspekt der biologisch bedingten Geschlechtsunterschiede erweitert. Im Jahr 2003 erhielten sie und ihr Ehemann, der Psychologe Norbert Bischof, den Deutschen Psychologiepreis.

Typisch Jungs: eher konkurrenzorientiert, risikobereit, explorativ. (Foto: Foto: iStock)

SZ Wissen: Frau Bischof-Köhler, was ist mit den Jungen los? Werden aus geborenen Siegern plötzlich Verlierer?

Bischof-Köhler Zunächst einmal weiß ich gar nicht, ob sich die Jungen selbst in der Krise sehen. Zwar schneiden sie in verschiedenen Leistungstests schlechter ab als die Mädchen, aber wenn man davon ausgeht, dass Jungen per Geschlecht dazu neigen, sich selbst zu überschätzen und ein dickeres Fell gegenüber Misserfolgen zu haben, dann fragt man sich, ob sie sich nicht vor solchen unerquicklichen Einsichten einfach abschirmen.

SZ Wissen: Es gibt immer noch Menschen, die abstreiten, dass Jungen und Mädchen von Natur aus unterschiedliche Eigenschaften haben.

Bischof-Köhler Und zwar eisern! Dabei sprechen die Fakten eindeutig dafür.

SZ Wissen: Warum ist die Debatte so emotional?

Bischof-Köhler Viele Menschen ziehen den falschen Schluss, dass unterschiedliche Anlagen eine Determinierung bedeuten: Wenn Männer und Frauen von Natur aus anders seien, dann bedeute dies, dass ihr Verhalten vorbestimmt sei. Auf diese Weise kann man natürlich ganz wunderbar die Diskriminierung der Frau rechtfertigen, aber deshalb die ganze Biologie abzulehnen, ist nicht die Lösung.

SZ Wissen: Auch viele Männer und Jungen kommen mit stereotypen Rollenbildern nicht zurecht und wollen davon nichts wissen.

Bischof-Köhler Nein, weil sie auch nicht auf jedes Individuum gleichermaßen zutreffen. Bei den typischen Veranlagungen handelt es sich um einen Mittelwert, dem nicht jeder Vertreter eines Geschlechts im gleichen Ausmaß entsprechen muss. Problematisch wird es, wenn diese Dispositionen verallgemeinert werden, wie dies in den Stereotypien geschieht, aber diese gehen von der Gesellschaft aus. Der Druck zur Konformität entsteht also durch die Gesellschaft und nicht durch die Biologie.

SZ Wissen: Wie sind die unterschiedlichen Anlagen also zu verstehen?

Bischof-Köhler Als unterschiedliche Interessen, Neigungen und Fähigkeiten: Mädchen sind im Mittel fürsorglicher, sozial sensibler, Jungen dagegen eher konkurrenzorientiert, risikobereiter, explorativer, sie neigen zu Selbstüberschätzung und Imponiergehabe. Dennoch kann jeder Mensch auch Dinge erlernen, die ihm nicht so leicht fallen, wenn man das entsprechend fördert und hervorlockt.

SZ Wissen: Was sind die Ursachen für die unterschiedlichen Eigenschaften?

Bischof-Köhler Evolutionstheoretisch gesehen haben sie damit zu tun, dass bei Säugetieren, zu denen ja auch wir Menschen gehören, die Frauen wesentlich weniger Kinder haben können als die Männer. Daraus entsteht die größere Fürsorglichkeit der Frauen: Wenn man nur eine begrenzte Zahl von Kindern in die Welt setzen kann, dann verstärkt sich die Disposition, besonders gut für sie zu sorgen.

Die Männer dagegen können potenziell sehr viel mehr Nachkommen zeugen. Allerdings stellt sich ihnen das Problem, eine empfängnisbereite Partnerin zu finden, die nicht gerade schwanger oder mit der Erziehung ihres Nachwuchses beschäftigt ist, und damit stehen die Männer in Konkurrenz zu ihren Geschlechtsgenossen.

Die daraus resultierende Notwendigkeit zu rivalisieren gab evolutionär den Anlass, die typisch männlichen Eigenschaften auszubilden.

SZ Wissen: Und die bereiten ihnen heute Schwierigkeiten: Jungen werden dafür gemaßregelt, dass sie sich prügeln und im Unterricht stören, und sie bekommen im Durchschnitt schlechtere Noten als die Mädchen.

Bischof-Köhler Die Umstände in den Schulen sind oft wenig jungenfreundlich, das ist vielleicht das eigentliche Problem. Selbst auf dem Pausenhof haben Jungen kaum noch die Möglichkeit sich auszutoben, und Raufereien sind kulturell nicht angesehen.

SZ Wissen: Kein Wunder, auch im vergangenen Jahr ist die Jugendkriminalität wieder angestiegen.

Bischof-Köhler Das sind Extreme, bei denen bereits etwas schiefgelaufen ist. Die Raufereien, die ich meine, haben einen spielerischen Charakter und sind nicht aggressiv motiviert - und sie treten übrigens kulturübergreifend fast ausschließlich bei Jungen auf.

SZ Wissen: Das könnte doch auch damit zusammenhängen, dass Jungen genau dieses Verhalten vorgelebt bekommen und von Geburt an unterschiedlich behandelt werden.

Doris Bischof-Köhler: "Unterschiedliche Anlagen". (Foto: Foto: oh)

Bischof-Köhler Natürlich spielt die Sozialisation eine große Rolle, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Bereits in den ersten Tagen nach der Geburt sind geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede feststellbar. Man weiß inzwischen, dass das Männlichkeitshormon Testosteron schon während der Fötalentwicklung eine große Rolle spielt. Diese unterschiedlichen Angebote der Jungen und Mädchen rufen wiederum in den Eltern andere Reaktionen hervor. Sozialisation ist keine einseitige Einflussnahme, sondern ein interaktiver Prozess.

SZ Wissen: Viele Eltern wollen ihre Jungen und Mädchen trotzdem möglichst gleich erziehen und schwören darauf, das zu tun.

Bischof-Köhler Das kann sich ausgesprochen kontraproduktiv auswirken: Im Zuge der 68er-Bewegung zum Beispiel wollte an die Jungen und Mädchen geschlechtsneutral erziehen, auch mit dem Ziel, die Kinder zu befähigen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. In einer Untersuchung wurde nun das Verhalten von 400 Kindern aus traditionellen Kindergärten und aus antiautoritär geführten Kinderläden verglichen. Ergebnis: Die drei- und vierjährigen Jungen in den Kinderläden lösten ihre Konflikte häufiger aggressiv als diejenigen in den Kindergärten - und vor allem auch aggressiver als die Mädchen in den Kinderläden.

SZ Wissen: Dann sollten sich die kleinen Jungen also prügeln dürfen?

Bischof-Köhler Sofern der spielerische Charakter nicht verloren geht und es nicht in Destruktion ausartet.

SZ Wissen: Sie sagen aber doch selbst, dass jungentypische Eigenschaften nur Neigungen sind, und dass man sie beeinflussen kann.

Bischof-Köhler Aber dann muss ich geeignete Anreize dafür schaffen, und die Frage ist auch, um welchen Preis ich die Veränderung will. Wenn ich beschließe zu fasten, dann ist das machbar, aber ziemlich anstrengend. Heute wird beispielsweise vermehrt gefordert, dass sich Väter mehr um die Kinderbetreuung kümmern sollten, was ich auch unterstützen würde.

SZ Wissen: Sie selbst haben allerdings Ihre wissenschaftliche Karriere unterbrochen, um Ihre drei Töchter großzuziehen.

Bischof-Köhler Ich würde den Frauen heute wünschen, dass sie nicht so eine lange Pause einlegen müssen. Und viele Männer haben inzwischen erkannt, dass die Zeit mit den Kindern für sie einen großen emotionalen Gewinn bedeutet. Aber es gibt auch Männer, denen das partout nicht liegt, und die sollte man dann nicht dazu nötigen, wie man ja auch nicht von jeder Frau erwarten kann, dass ihr ein Konkurrenzkampf Spaß macht.

SZ Wissen: Inzwischen gehen einige Schulen auf diese Unterschiede ein und bieten im Bereich Sprachen oder Naturwissenschaften wieder getrennten Unterricht an.

Bischof-Köhler Ein richtiger Schritt! Für einen Lehrer ist die Koedukation ja gar nicht so leicht: Die Mädchen sind fleißig, ordentlich und führen ihre Hefte sauber, und die Jungen quatschen ständig dazwischen und unternehmen alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - ich übertreibe jetzt mal. Nun hat unser Lehrer vielleicht gelernt, dass er die Mädchen fördern soll. Wenn die Jungen sich dabei übergangen fühlen, dann drehen die erst mal so richtig auf. Oder der Lehrer fördert die Jungen und die Mädchen bleiben auf der Strecke.

SZ Wissen: Ohne sich in den Vordergrund zu spielen?

Bischof-Köhler Ja, ein schönes Beispiel: Im angelsächsischen Sprachraum treten Kinder häufig in Buchstabierwettbewerben gegeneinander an. Dabei hat man beobachtet, dass sich Jungen immer sofort meldeten, wenn ein Wort genannt wurde, egal ob sie es buchstabieren konnten oder nicht, während die Mädchen sich nur dann meldeten, wenn sie wussten, dass ihre Kontrahentin nicht besser war. Traten Mädchen gegen Jungen an, meldeten sich die Jungen auf Grund ihrer höheren Selbsteinschätzung ebenfalls immer zuerst - auch wenn sie schlechter waren.

SZ Wissen: Was schlagen Sie also vor?

Bischof-Köhler Ich kann nur den Rat geben, die Geschlechtsunterschiede ernst zu nehmen und beim Unterricht zu berücksichtigen. Dabei ist wichtig, dass das Verhalten beider Geschlechter nicht unterschiedlich bewertet wird. Wie das im Einzelnen konkret umzusetzen ist, fällt in die Kompetenz der Pädagogen.

Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, von Doris Bischof-Köhler, Kohlhammer, 3. Auflage, 2006

Mehr zum Thema Jungs finden Sie in der aktuellen Ausgabe von SZ Wissen (17/2007).

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