Northwick-Hospital:Das unheilvolle Heilmittel

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Endlose Gänge und ein schockierender Fehlschlag: Zu Besuch in dem Londoner Krankenhaus, in dem sechs Testpersonen um ihr Leben kämpfen.

Wolfgang Koydl

Das Northwick Park Hospital im Nord-Londoner Stadtteil Harrow ist weniger ein Krankenhaus als eine ganze Krankenstadt. Kilometerlange Korridore und Straßen verbinden die unterschiedlich großen Waschbetonwürfel, aus denen diese Stadt zusammengesetzt ist.

Es gibt Märkte und Einkaufszentren, Restaurants und Cafés, Kirchen und einen Hindu-Schrein. So groß ist diese vom staatlichen britischen National Health Service betriebene Anstalt, dass man spielend leicht auch ein kleines privates Unternehmen irgendwo darin wegstecken kann.

Die Zimmer mit den 36 Betten von Parexel International Ltd. liegen denn auch ein wenig versteckt ganz am Ende eines Ganges im siebten Stock des Hauptgebäudes von Northwick Park. Ein Blick durch die holzgerahmte Glastür genügt, um festzustellen, wo die staatliche Krankenfürsorge aufhört und die Privatwirtschaft beginnt:

Muskelpakete unter Sakko-Ärmeln

Kein Linoleum mehr, sondern Teppichboden, keine abgekratzte Ölfarbe an den Wänden, sondern Tapeten, Polstergarnituren statt Plastikstühle. Viel mehr als einen Blick durchs Glas erhascht man freilich nicht in diesen Tagen, denn die Türe zur "Clinical Pharmacology Research Unit" von Parexel ist - zumindest für unbequeme journalistische Fragesteller - fest verschlossen.

Bewacht wird der Eingang von einem Mann, der mit seiner Glatze und den Muskelpaketen unter den Sakko-Ärmeln so gar nicht in den hellgrauen Schurwollanzug zu passen scheint. Bei aller Höflichkeit erinnert er doch viel eher an einen Rauswerfer vor einer Bar. Nur einen Spalt weit öffnet er die Tür und empfiehlt, es doch lieber telefonisch über die Leitung für Notfälle zu versuchen.

Dass man bei Parexel vorsorglich die Schotten dichtgemacht hat, liegt daran, dass sich diese Woche hinter der Glastür im siebten Stock eine der folgenschwersten und gruseligsten Pannen in der Geschichte jüngerer pharmakologischer Forschung ereignet hat. Sechs gesunde junge Männer, an denen ein neues Medikament gegen Leukämie und Rheuma getestet werden sollte, brachen nur Minuten nach der Injektion mit schwersten Krankheitssymptomen zusammen.

"Die Station verwandelte sich innerhalb von wenigen Minuten in eine lebendige Hölle", berichtete der 23-jährige Fernsehtechniker Raste Khan. "Die Männer kippten um wie Dominosteine." Er selbst blieb nur deshalb verschont, weil er eine von zwei Testpersonen war, denen nicht die Droge, sondern ein Placebo verabreicht worden war.

Das Medikament mit der Bezeichnung TGN1412 wird von der Würzburger Firma Tegenero hergestellt. Dort spricht man von "schockierenden Entwicklungen" und hat eine Delegation von Führungskräften nach London entsandt. Die Betroffenen bat man per Presseerklärung um Verzeihung.

Nun käme es darauf an, "dass die Patienten und Familien alle erdenkliche Hilfe erhalten". Die US-Firma Parexel führt für Pharmaunternehmen klinische Tests durch, wobei der Schwerpunkt - wie sich die Firma in ihrer Website selbst rühmt - darauf liegt, Erstversuche an Menschen klinisch auszuwerten. Auch TGN1412 war zum ersten Mal Menschen verabreicht worden.

Das Medikament hat die Aufgabe, die Killerzellen des menschlichen Immunsystems zu aktivieren, damit sie Krankheitserreger bekämpfen können. Bei dem Test freilich scheint es auf grauenvoll gründliche Weise gewirkt zu haben. Denn was sich vor den Augen der fassungslosen Ärzte abspielte, erinnerte eher an einen Horrorfilm als an einen klinischen Versuch:

"Sie rissen sich die Hemden vom Leib und klagten über Fieber", schilderte Raste Khan die Szene. Die Symptome waren dabei nicht einheitlich. "Einige schrieen, weil sie glaubten, ihre Köpfe könnten jeden Moment explodieren. Andere brachen bewusstlos zusammen, übergaben sich oder krümmten sich vor Schmerzen in ihren Betten."

Honorar von 2000 Pfund

Ein anderer Mann habe den Rücken nach vorne durchgedrückt, "als ob ihm jemand ins Kreuz treten würde" und die Ärzte um Schmerzmittel angefleht. Das Einzige, was die Ärzte bislang zu wissen scheinen, ist, dass bei den Versuchspersonen lebenswichtige Organe einfach versagten.

"Seine Lungen, sein Herz und seine Nieren müssen künstlich unterstützt werden", schilderte auch Myfanwy Marshall den Zustand ihres Freundes, der am zweiten Tag nach dem Vorfall noch immer in Lebensgefahr schwebte. "Er hat dunkle Haare, er sieht toll aus", beschrieb sie den gesunden 28-Jährigen, der sein Geld hinter dem Tresen eines Pubs verdient.

Ein "kräftiger, muskulöser Typ" sei er gewesen, aber im Klinikbett "sah er aus wie ein 45 Jahre alter Mann nach einem Herzinfarkt". Kopf und Hals seien derart unförmig angeschwollen, berichtete Marshall, "wie beim Elefantenmenschen".

Für die meisten war das viel Geld, mit dem sie Schulden abbezahlen, ein Studium finanzieren oder vielleicht ein neues Auto kaufen wollten. Auch Ihr Freund, dessen Identität nicht bekannt gegeben wird, hätte ebenso wie die anderen menschlichen Versuchskaninchen ein Honorar von 2000 Pfund (etwa 3000 Euro) für die Teilnahme an dem Test erwarten können. Ryan Wilson hätte das Geld gut gebrauchen können, denn als Klempnergeselle verdient man nicht viel.

"Der reinste Todeskampf"

Doch nun liegt auch er auf der Intensivstation, und seine Schwägerin Jo Brown hat sich noch immer noch nicht von dem Schock erholt, den sie bei seinem Anblick erhielt: "Sein Kopf ist aufs Dreifache angeschwollen, und sein Hals ist sogar noch breiter als der Kopf.

Seine Haut ist dunkelviolett, und seine Augen sind mit Tesafilm zugeklebt." Und er leide unmenschliche Schmerzen: "Es war die reine Agonie." Die furchtbare Panne von London freilich wird nicht dazu führen, dass klinische Tests mit Medikamenten an Menschen aufhören.

Derweil noch immer zwei Menschen auf der Intensivstation des Northwick Park Hospital mit dem Tode ringen, sitzt hinter der Glastür im siebten Stock ein junger Mann auf der Couch. Er sieht aus wie Myfanwys Freund einmal aussah oder wie der junge Ryan Wilson: kräftig, gesund - und nicht so wohlhabend, dass er auf ein paar tausend Pfund verzichten würde. In der Hand hält er einen Stift und ein Stück Papier. Sorgfältig und voller Konzentration füllt er ein Formular aus.

© SZ vom 17.3.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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