Neue Zahlen zum Atomunfall:Strahlende Wolke über Windscale

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50 Jahre nach dem Brand im britischen Kernreaktor Windscale haben Forscher das Ausmaß des Atomunfalls neu berechnet. Der Fallout war demnach deutlich größer als angenommen.

Christopher Schrader

Es war ein schöner Herbsttag im Norden Englands, als dort am 10. Oktober 1957 der Unfall passierte, der "nur darauf gewartet hatte zu passieren", wie später Chronisten schrieben. Im Kernreaktor "Windscale 1" fingen am frühen Nachmittag ein 2000-Tonnen-Block Graphit und etwa zehn Tonnen Uran Feuer, und erst gegen Mittag am 11. Oktober hatten die Bedienungsmannschaften den Brand im Griff. Eine strahlende Wolke entkam dem Schornstein der Anlage und legte sich über England und große Teile Nordeuropas.

Jetzt, fast genau 50 Jahre später, haben zwei britische Forscher berechnet, dass damals etwa doppelt so viel radioaktives Material freigesetzt wurde als bisher geschätzt. Auch die Zahl der Krebsfälle, die das Unglück auslöste, sei deutlich höher als angenommen (Atmospheric Environment, Bd.41, S.3904, 2007).

John Garland, ehemaliger Mitarbeiter der britischen Atomaufsichtsbehörde, und Richard Wakeford von der Universität Manchester haben die alten Aufzeichnungen überprüft. Da der Wind in jenen 24 Stunden wechselhaft war und am Boden zwischen Südwest und Nord sprang, mussten sie genau rekonstruieren, wann welche Menge Radioaktivität freigesetzt worden war. Sie nutzten dabei unter anderem Computermodelle, die sonst der Wetter- und Klimavorhersage dienen. So konnten sie die Verbreitung der strahlenden Wolke simulieren und daraus auf die Menge der Radioaktivität zurückschließen.

Das meiste waren Jod-, Tellur- und Xenon-Isotope, die nach wenigen Wochen weitestgehend zerfallen waren; in der Zeit direkt nach dem Unfall aber musste die britische Regierung Lebensmittel wie Milch aus der betroffenen Region aus dem Handel verbannen und vernichten. Noch heute hingegen belasten Cäsium und geringe Mengen Plutonium die Umwelt. Eine Sonderstellung nimmt Polonium ein, das die Experten damals offenbar unterschätzten und geheimhielten. Nach Wakefords Schätzung ist es für einen Großteil der statistisch zu erwartenden 240 Krebsfälle verantwortlich. Frühere Schätzungen hatten von 200 Fällen gesprochen.

Die beiden Reaktoren in Windscale, das zum heutigen Nuklearkomplex Sellafield gehört, hatten eine primitive Konstruktion, ihnen fehlte zum Beispiel ein Sicherheits-Druckbehälter. Sie dienten allein dazu, Plutonium für Atombomben und einige andere Stoffe zu erbrüten.

Das Polonium zum Beispiel wurde für Zünder der Nuklearwaffen gebraucht. Die nukleare Kettenreaktion geschah in Aluminiumröhrchen mit Uran. Sie steckten in einem Graphitblock, der bei einem Zerfall austretende Neutronen bremste und so die Kettenreaktion ermöglichte. Die entstehende Wärme wurde wie bei einem alten Auto abgeführt: mit Luftkühlung.

Zur Stromerzeugung wie bei modernen Reaktoren wurde die Wärme nicht genutzt. Große Ventilatoren bliesen Luft durch die Kanäle mit den Brennelementen. Im laufenden Betrieb kam es dabei vor, dass der Luftzug die Brennelemente verschob oder aus dem Meiler warf. Hinter dem Reaktor wurde die erwärmte Luft durch einen 120 Meter hohen Schornstein wieder nach draußen geblasen. Dass in diesen Kamin Filter für radioaktive Stoffe gehörten, war beim Bau der Reaktoren ein Nachgedanke gewesen, der dem Zuständigen offenbar zunächst Spott eingebracht hatte.

In diesen Filtern nun begannen am Nachmittag des 10. Oktober 1957 die Strahlungswerte zu steigen, bald waren die Zeiger oben von der Skala gerutscht. Im Reaktor selbst wurde es schnell zu heiß. Offenbar war der Bedienungsmannschaft eine Wartungsmaßnahme außer Kontrolle geraten. Der Reaktorkern musste regelmäßig aufgeheizt werden, damit sich im Graphit keine Strahlenschäden ansammelten.

Dabei hatte es entweder eine lokale Überhitzung gegeben, oder ein Röhrchen, in dem andere radioaktive Substanzen aus Magnesium und Lithium erbrütet werden sollten, war in Brand geraten. Jedenfalls ließ sich der Reaktor nicht mehr kühlen, die eingeblasene Luft fachte das Feuer an.

Rot glühende Brennelemente

Als die Bedienungsmannschaft zur Kontrolle eine Revisionsklappe öffnete, sah sie Brennelemente rot glühen und Flammen am hinteren Rand des Graphit lodern. Die Brennelemente hatte sich bereits verzogen, ließen sich nicht mehr einfach aus dem Block entfernen. Teilweise benutzen die Arbeiter Vorschlaghämmer, wie britische Medien in ihren Berichten zum Jubiläum schreiben.

Schließlich griff die Mannschaft zu einem verzweifelten Mittel: Sie löschte mit Wasser. Das hätte eine verheerende Katastrophe auslösen können, schon weil die Gefahr bestand, dass der entstehende Dampf die Halle sprengt. Das Löschen war dann zwar erfolgreich. Doch bis heute arbeiten britische Behörden daran, den Unglücksreaktor abzubauen.

Politisch kam der Brand der Regierung unter dem damaligen Premierminister Harold Macmillan höchst ungelegen. Sie verhandelte gerade mit den USA über eine Aufnahme einer nuklearen militärischen Kooperation. Daher wurde der Untersuchungsbericht über das Windscale-Feuer für geheim erklärt, nur eine bereinigte Zusammenfassung erreichte die Öffentlichkeit. Erst seit 1989 sind alle Fakten über das Unglück allgemein zugänglich.

Spuren der Radioaktivität wurden damals in vielen Ländern Europas gemessen, jenseits der Nord- und rund um die Ostsee. 90 Prozent des strahlenden Materials aber sind damals über England niedergegangen, besagt die neue Studie.

In der internationalen Skala für die Schwere von nuklearen Unglücken, die von den Stufen Null bis Sieben reicht, belegt die strahlende Freisetzung die Stufe Fünf. Gravierender waren nur die Unglücke von Majak und Tschernobyl, wo nach Berechnungen Wakefords etwa 1000-mal so viel radioaktives Jod freigesetzt wurde wie in Windscale.

© SZ vom 09.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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