Nach einem Gau oder Terroranschlag:Was tun mit den verstrahlten Massen?

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Die meisten Kliniken in Europa wüssten bei einem Strahlenunfall nicht, wie sie mit verstrahlten oder verängstigten Menschen umgehen sollen. Nun versuchen Ärzte, sich auf radioaktive Katastrophen vorzubereiten.

Christopher Schrader

Was 1987 in Goiania passierte, war für Strahlenmediziner der reinste Albtraum. Altmetallsucher hatten in einer verlassenen Klinik der brasilianischen Stadt den Kopf eines Bestrahlungsgeräts abmontiert. 26 Gramm des hochradioaktiven Materials Cäsium-137 waren darin enthalten. Es leuchtete im Dunkeln tiefblau, ein Schrottplatzbesitzer und seine Familie nahmen es staunend mit nach Hause. Seine sechsjährige Nichte schminkte sich mit dem Cäsium-Pulver.

Zum Glück nur eine Notfallübung zeigt dieses Bild. Nach einem realen Unfall in einem Kernkraftwerk oder einem Terroranschlag werden Tausende Menschen in die Kliniken stürmen. (Foto: Foto: dpa)

Bald klagten die Ersten über Übelkeit, Durchfall, Haarausfall und Mattigkeit. Nach zwei Wochen wurden die Behörden aufmerksam. 25 Gramm des Cäsiums konnten sie sicherstellen. Vier Menschen starben an akuter Strahlenkrankheit, darunter das Mädchen. 20 mussten ins Krankenhaus, 249 waren verseucht und mussten dekontaminiert werden - und 113.000 wurden in einem Fußballstadion untersucht, bis klar war, dass ihnen nichts fehlte. Das dauerte 14 Wochen.

Ähnliche Szenen in einem Industriestaat mag sich kaum jemand vorstellen: Nach einem Unfall in einem Kernkraftwerk oder einem Terroranschlag mit einer sogenannten schmutzigen Bombe, die radioaktives Material freisetzt, stürmen Tausende Menschen in die Kliniken.

Das größte Problem für Strahlenmediziner wären die "worried well", die "besorgten Unbelasteteten". Die meisten von ihnen haben keine Beschwerden, sorgen sich aber vor Spätschäden wie Krebs. Ärzte müssten sich im Notfall aber den akut Betroffenen zuwenden.

"Die meisten Kliniken in ganz Europa wüssten bei einem Strahlenunfall nicht, was sie machen sollen", sagt Viktor Meineke, der das Radiobiologie-Institut der Bundeswehr in Neuherberg bei München leitet. Die nötigen Kenntnisse lernten Mediziner nicht im Studium. "Eigentlich müsste in jeder größeren Klinik eine Handvoll Oberärzte wissen, was in einem solchen Fall zu tun ist."

Um das zu ändern, haben Viktor Meineke und Theodor Fliedner von der Universität Ulm mit Kollegen anderer Institute soeben die erste europäische Fortbildung für Ärzte zum "medizinischen Umgang mit massenhafter radioaktiver Exposition" organisiert. In einem Hotel in Oberschleißheim bei München hatten sich gut 40 Ärzte aus Ländern zwischen Litauen und Frankreich sowie zwischen Norwegen und der Türkei versammelt; auch aus Japan und den USA kamen Teilnehmer.

"Der Kurs ist ein Versuch"

Finanziert hat den Kurs das Bundesumweltmisterium. "Der Kurs ist ein Versuch", sagt Dietger Niederwieser von der Universität Leipzig. Er leitet den europäischen Verbund EBMT von Kliniken, die Knochenmark transplantieren. "Wir wollen herausfinden, was vielbeschäftigte Klinikärzte in zwei Tagen aufnehmen können."

Aufklärung ist nötig, denn viele Helfer, Besatzungen von Krankenwagen, Schwestern und Ärzte, reagieren auf den kleinsten Hinweis radioaktiver Strahlung ängstlich - so wie die generelle Bevölkerung. "Es ist schon vorgekommen, dass eine Klinik einen Mann mit einem Herzinfarkt abgewiesen hat, weil er einen Schutzanzug von der Arbeit trug", berichtet Volker List von Forschungszentrum Karlsruhe, "obwohl er nicht verstrahlt war."

Auch müsse man Pflegern sagen, mahnt List, dass Dekontamination, also die Reinigung radioaktiv belasteter Opfer keine Verstümmelung rechtfertigt: Die Haut müsse nicht blutig geschrubbt werden. Beruhigend könne auch dieser Hinweis wirken: Von dem Personal, das 2006 in London den mit Polonium verstrahlten, russischen Regimekritiker Alexander Litwinenko gepflegt hatte, war niemand einer Dosis von mehr als einem Millisievert ausgesetzt. Mancherorts in Deutschland liegt die jährliche Belastung durch natürliche Strahlung höher.

Ärzte müssen wissen, wie sie verstrahlte Patienten versorgen

Umgekehrt müssen Ärzte auch wissen, wie sie einen Patienten versorgen, der die Explosion eines strahlenden Geräts oder einer schmutzigen Bombe überlebt haben. Radioaktives Schrapnell in seinem Körper erfordert es, auf beiden Seiten der Wunde einen Streifen Gewebe zu entfernen, damit die Ärzte beim Vernähen keine Strahlungsquelle im Körper einschließen. "Der Operationssaal muss dafür ausgelegt sein, dass man alle Körperflüssigkeiten und sämtlichen Abfall auffangen kann. Sonst ist später der OP verseucht", sagt Viktor Meineke.

Um praktische Kenntnisse zu erlangen, haben die Teilnehmer der Fortbildung in Workshops Krankengeschichten durchgearbeitet. Entscheidend ist es für Ärzte, sagt Theodor Fliedner, außerhalb der Klinik die Patienten in Kategorien einzuteilen. "Triage" nennen Mediziner dieses Sortieren, das sie vornehmen, wenn viele Verletzte auf einmal zu versorgen sind. Sie entscheiden dann, bei wem schnelle Hilfe nötig und aussichtsreich ist. Das kann auf Betroffene herzlos wirken, die Ärzte aber müssen sich vor Überlastung schützen.

In Turnhallen oder der Lobby des Krankenhauses würden die - tatsächlichen oder vermeintlichen - Opfer eines Strahlenunfalls untersucht; Vorbereitungen für solche Notfallstationen gibt es in Deutschland nur in der Nähe von Kernkraftwerken.

Vier Stufen von Strahlenschäden

"Die medizinische Reaktion im Einzelfall muss davon abhängen, wie stark der Organismus beeinträchtigt ist", sagt Fliedner. "Die geschätzte Dosis an Radioaktivität ist eher unwichtig." Auch um mögliche Spätschäden darf es zunächst nicht gehen. Auf vier Kategorien haben sich Mediziner in Europa geeinigt: Sie reichen von der Stufe eins, in der die selbsttätige Erholung des Körpers sicher ist, bis zur Stufe vier, in der sie unmöglich erscheint.

Am empfindlichsten auf Radioaktivität reagiert das Knochenmark. Im Blutbild zeigt sich vier Tage nach starker Bestrahlung ein "dramatischer Effekt, den man gar nicht übersehen kann", sagt Fliedner. Im Extremfall sind sämtliche Stammzellen, die weiße Blutkörperchen bilden, von der Radioaktivität zerstört.

Ein solcher Patient gehört zur Kategorie vier, nur eine Knochenmarkstransplantation kann ihm helfen. In 48 Fällen weltweit haben Mediziner diese Nothilfe nach Strahlenunfällen bisher versucht; in 44Fällen sind die Patienten trotzdem gestorben, weil die Strahlenschäden im restlichen Körper so gravierend waren.

Haben die Patienten radioaktives Material aufgenommen, regen Mittel wie Preußisch-Blau oder DTPA den Körper an, es auszuscheiden. Doch in Europa gibt es keine Vorräte solcher Präparate. Ganz anders in den USA, die sich Viktor Meineke zufolge systematisch darauf vorbereiten, dass Terroristen eine Atom- oder eine schmutzige Bombe in einer ihrer Großstädte zünden. "Wir haben in unserem Institut 500 Ampullen DTPA, in ganz Deutschland gibt es vielleicht 2000", sagt Meineke. "Die Amerikaner lagern 200.000 Ampullen ein - pro Tag."

© SZ vom 5.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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