Medizin:Flächenbrand im Körper

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Keime im Kreislauf lösen Katastrophen aus: Eine Sepsis kann jeden treffen. Plötzlich und unerwartet. Unbehandelt führt sie schnell zum Tod. Wenn Bakterien oder Pilze das Blut vergiften, überreagiert das Immunsystem.

Joachim Pietzsch

Am Nachmittag schlugen die Abwehrzellen Alarm. Auf ihrer Patrouille im Blut waren sie von Bakterien angegriffen worden, die sich durch eine Wunde in den Kreislauf gezwängt hatten. Die Grenzposten auf den Abwehrzellen reagierten panisch. Sie sandten Signale äußerster Not in den Zellkern. Dieser bildete blitzschnell Botenstoffe, die Verstärkung holten, und mobilisierte massenhaft Moleküle für die Schlacht im eigenen Blut.

(Foto: N/A)

So begann das Sterben des jungen Mannes, der sich am Vormittag einer Operation seiner Hämorriden unterzogen hatte. Die Heftigkeit, mit der sein Körper die bakterielle Bedrohung beantwortete, zerstörte ihn innerhalb von drei Tagen selbst, zunächst unbemerkt und unbehandelt von Ärzten und Schwestern, dann schließlich mit der Wucht einer Sturmflut, die keine Rettung mehr zuließ.

Der Patient starb im septischen Schock.

"Das ist selten nach so einem harmlosen Eingriff", sagt Professor Konrad Reinhart, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Jena, der seit über 20 Jahren fast täglich mit dem Krankheitsbild Sepsis konfrontiert ist. "Es kommt aber leider vor, weil es schwierig ist, Sepsis-Symptome rechtzeitig richtig zu deuten und zu behandeln."

Das liege auch daran, dass die Sepsis in der medizinischen Ausbildung oft vernachlässigt werde. Um die tödliche Krankheit besser zu erforschen, gründete Reinhart vor fünf Jahren die Deutsche Sepsis-Gesellschaft (www.sepsis-gesellschaft.de). Eines ihrer Ziele ist es, die Sterblichkeitsrate bei Sepsis in den nächsten fünf Jahren um 25 Prozent zu senken.

Damit würden Reinhart und seine Mitstreiter jährlich 15.000 Patienten das Leben retten. Denn allein in Deutschland sterben jedes Jahr rund 60.000 Menschen an einer Sepsis, fast genauso viele wie an einem Herzinfarkt. Etwa ein Drittel aller Kosten für die Intensivtherapie in deutschen Krankenhäusern, rund 1,8 Milliarden Euro jährlich, entfallen auf die Behandlung der Sepsis. Aber nur 46 Prozent der Patienten, die mit einer schweren Sepsis auf eine Intensivstation eingeliefert werden, überleben die akute Erkrankung.

Patienten mit einem Herzinfarkt haben mehr als doppelt so hohe Rettungschancen. Und die Häufigkeit der Sepsis nimmt zu: In den USA hat sie sich in den letzten 20 Jahren verfünffacht. Das ist auch ein Preis für den Fortschritt der Medizin, der uns Menschen immer älter werden lässt. Denn im Alter schnellt das Risiko, nach einer Operation einer Sepsis zum Opfer zu fallen, in die Höhe.

"Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, dass die Sepsis vorwiegend bei geschwächten Patienten auf Intensivstationen durch Krankenhauskeime entsteht", rückt Reinhart ein verbreitetes Vorurteil zurecht. Nach den jüngsten Erhebungen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) entwickelten nur 33 Prozent aller Sepsis-Patienten ihre Krankheit infolge einer schweren Primärerkrankung auf einer Intensivstation, 40 Prozent aber außerhalb des Krankenhauses.

Gerade für diese Patienten, die nicht bereits unter stationärer Beobachtung stehen und mit unklaren Beschwerden die Ambulanz aufsuchten, sei eine schnelle und richtige Diagnose überlebenswichtig. "Tod oder Leben ist dann eine Frage, die sich oft in wenigen Stunden entscheidet", sagt Reinhart, der auch Sprecher des SepNet ist.

Das ist heute nicht anders als vor 100 Jahren. Damals beschrieb der Hamburger Mediziner Jacob zum ersten Mal zwölf Fälle von Sepsis, darunter den eines 38-jährigen Kutschers, "kräftiger Mann, gestern noch gesund", der am 16. August 1906 mit Schüttelfrost und Schmerzen im rechten Unterbauch ins Eppendorfer Krankenhaus aufgenommen worden war. Der Zustand des Mannes verschlechterte sich rapide, er verstarb kurze Zeit später. In seinem Blut fand Jacob Coli-Bakterien.

Diese sind eigentlich friedliche Bewohner unseres Darmes. Wenn sie jedoch in die Blutbahn gelangen, droht - wie einst schon Paul Ehrlich beobachtete - der "Horror autotoxicus", der Schrecken der Selbstvergiftung.

Je schneller die Ärzte die Invasoren identifizieren und zielgerichtet behandeln, desto besser sind die Überlebenschancen für die betroffenen Sepsis-Patienten. (Foto: Foto: innovate)

Solange bakterielle Infektionen, sei es im Harnleiter oder unter dem Zahnfleisch, lokal begrenzt sind, bekämpft und beseitigt das menschliche Immunsystem sie mit erstaunlicher Routine, indem es eine Entzündung entfacht. Vermittelt wird diese Entzündung durch Zytokine. Das sind spezialisierte Botenstoffe der interzellulären Kommunikation, die zunächst nur von Abwehrzellen in unmittelbarer Nähe des Infektionsortes gebildet werden.

Sie veranlassen eine Weitung der Blutgefäße um den Infektionsherd, so dass diese stärker durchblutet werden. Daher sind entzündete Stellen gerötet und warm. Gleichzeitig verlangsamt sich der Blutfluss.Weiße Blutkörperchen schmiegen sich an die Wand der Blutgefäße und schlüpfen, gefolgt von Flüssigkeit, zwischen deren Fugen hindurch, um den Abwehrkampf gegen die Bakterien zu verstärken.

Daher schwellen entzündete Stellen schmerzhaft an. Die vermehrt produzierten Zytokine verursachen nun eine Gerinnung des Blutes in den umliegenden Gefäßen. Das ist einer Straßensperre vergleichbar, die verhindern soll, dass die Bakterien in den Blutkreislauf gelangen. Die eingedrungenen Bakterien werden derweil von spezialisierten Abwehrzellen verschlungen und in die Lymphknoten transportiert.

Gelingt einem Bakterium dennoch der Durchbruch in die Blutbahn - sei es durch eine Wunde oder eine entgleiste Entzündung - dann erwächst aus derselben Strategie, die im Normalfall zum lokal erfolgreichen Krisenmanagement führt, eine körperweite Katastrophe.

Das Gift der Bakterien rast nun im Takt des Pulses durch Herz und Nieren, Leib und Glieder. Und das Immunsystem weiß sich nicht anders zu helfen, als die Entzündung zum Flächenbrand zu machen. Der Körper reagiert darauf unter anderem mit einer Erweiterung der Blutgefäße.

Auf fünf Liter Blut und hundert Quadratmeter Gefäßwände eines Erwachsenen bezogen bedeutet dies: Das Blut sackt förmlich weg, der Sauerstoff wird knapp, das Herz rast, immer mehr Wasser staut sich in den Geweben und der Patient bekommt Fieber. Körperweit bilden sich immer mehr Blutklümpchen, die die Gefäße verstopfen.

Ein Organ nach dem anderen wird von der Zirkulation getrennt - und schaltet sich ab. Unbehandelt führt jede Sepsis unweigerlich zum Tode. "Diese junge Frau wäre ohne Intensivmedizin innerhalb von 24 Stunden tot gewesen", verdeutlicht Konrad Reinhart am Foto einer Patientin im akuten septischen Schock.

Unter blondem Haar ein aufgequollenes Gesicht, übersät mit blauen und roten Blutergüssen, verpflastert und von Schläuchen umzogen. "Sie hatte immense Schäden der Blutgefäße, wir mussten ihr so viel Volumen zuführen, dass sie fast 30 Kilogramm zunahm", erläutert Reinhart, der das Leben der Frau retten konnte.

Die rechtzeitige Gabe des richtigen Antibiotikums, für das der jeweilige Erreger einer Sepsis empfindlich ist; die chirurgische Entfernung des Infektionsherdes, wenn dieser bekannt und zugänglich ist; und die frühzeitige Behandlung des Kreislaufschocks durch Flüssigkeitsersatz, Beatmung, Dialyse und künstliche Ernährung waren die drei wichtigsten Sofortmaßnahmen.

Doch während die richtigen Antibiotika zur rechten Zeit dem Erreger den Garaus machen und die todkranken Patienten immer besser behandelt werden können, auch dank eines neuen Medikamentes, dem Aktivierten Protein C, das die lebensbedrohliche Blutgerinnung im septischen Schock hemmt, ist es bis heute nicht gelungen, ein Medikament zu finden, das dessen Entstehung verhindert, indem es die Überreaktion des Immunsystems gezielt unterbindet.

Die Suche nach diesem Medikament gleicht dem Versuch, ein bunt bewegtes Mobile aus abertausend Teilen mit einem Griff zum Stillstand zu bringen.

Mehr als 200 mögliche Angriffspunkte für neue Arzneimittel haben Dutzende von Pharmaunternehmen in unzähligen klinischen Studien bislang weltweit getestet - und sind dabei immer wieder an der unfassbaren Komplexität der molekularen Kaskaden gescheitert, mit der unser Immunsystem auf Bakterien im Blut reagiert.

Verantwortlich für die verwirrende Vielfalt dieser Kaskaden sind biochemische Grenzposten, die man erst vor acht Jahren entdeckt hat. "Toll-like receptors" (TL-Rezeptor) haben die Forscher die Strukturen genannt, die wie Zollfahnder in großer Zahl auf der Oberfläche von Abwehr- und Gefäßwandzellen dem giftigen Schmuggelgut von Bakterien und anderen Erregern auflauern.

Bindet nur ein einziges Molekül des Bakteriengifts Lipopolysaccharid an einen der TL-Rezeptoren, werden gleich mehrere Schnellstraßen zum Zellkern freigeschaltet. Dieser sorgt sofort für die Aktivierung von hunderten von Genen, die Entzündungsboten produzieren, welche ihrerseits wiederum an andere Rezeptoren derselben Zelle binden, um für weitere Verstärkung zu sorgen.

Diese TL-Rezeptoren sind uralte Schaltelemente des Lebens - und darauf gedrillt sofort zu schießen. Hochkonserviert nennen die Biologen solche Elemente - sie wurden in der Evolution gewissermaßen vom ersten Mehrzeller bis zum Menschen durchgereicht.

Ursprünglich als notwendige Grenzwächter zwischen den Welten von Bakterien und höheren Organismen eingesetzt, ist diesen Rezeptoren auf späteren Stufen der Evolution offenbar keine Fortbildung mehr zuteil geworden, die ihnen differenziertere Reaktionsmuster erlaubt. So scheint die Sepsis ein Krieg archaischer Welten im Körper des Menschen zu sein.

Die Entwicklung von Hemmstoffen dieses Krieges - seien sie gegen die Bakteriengifte oder gegen die TL-Rezeptoren gerichtet - ist eine Herausforderung, der sich derzeit Forscher in aller Welt verschrieben haben. In ein viel versprechendes Stadium fortgeschritten seien, so Reinhart, inzwischen auch klinische Prüfungen mit niedrig dosiertem Hydrocortison und mit einem Selenium-Präparat zur besseren Behandlung der Sepsis.

Auch gibt es einen relativ zuverlässigen Indikator für das Ausmaß der Immunantwort auf eine Blutvergiftung. Er heißt Procalcitonin und ist die Vorstufe eines Hormons, das die Schilddrüse zur Regulierung des Kalziumhaushaltes herstellt. Bei einer Sepsis wird Procalcitonin von fast allen anderen Körperorganen gebildet. Bereits zwei Stunden nach dem Eintritt von Krankheitserregern ins Blut erhöht sich der Procalcitonin-Spiegel bis auf das 10.000-Fache.

"Noch wissen wir nicht genau, woran das liegt", erklärt Reinhart. "Aber durch Procalcitonin konnten wir schon manche Sepsis schneller erkennen."

Neulich sei zum Beispiel ein 50-jähriger Mann vom Notarzt mit epilepsieähnlichen Krämpfen eingeliefert worden. Er war in einem Schockzustand.

Es gab keinen Anhaltspunkt für eine Infektion, jedoch hatte der Mann einen erhöhten Procalcitonin-Wert. Vorsorglich wurden ihm Antibiotika gegeben. Das Ergebnis der Blutkultur bestätigte zwei Tage später den Verdacht auf eine Sepsis.

Weitere Nachforschungen ergaben, dass der Patient zwei Tage vorher zu einer Prostatapunktion beim Urologen war. Dort hatte er sich offenbar infiziert. "Seine Sepsis wäre ohne Procalcitonin-Messung verborgen geblieben", kommentiert Reinhart. Nicht jeder Mensch freilich trägt das gleiche Risiko, an einer Sepsis zu erkranken, darauf weist Reinhart ausdrücklich hin.

Denn das Ausmaß der Antwort der körpereigenen Abwehr auf eine bakterielle Bedrohung hänge auch von genetischen Faktoren, vom Alter und von der Lebensweise ab. Diese Einsicht gehöre zu den vielen Aspekten der Sepsis, die noch keinen Eingang in das Allgemeinwissen der Ärzte gefunden hätten, beklagt Reinhart.

Weil die Sepsis zudem häufig eine Folge anderer Krankheiten sei, wie etwa der Lungenentzündung, tauche sie auf Totenscheinen zehnmal seltener auf als sie tatsächlich vorkomme. Um das zu ändern, fahndet Konrad Reinhart nach prominenten Kronzeugen. Liest er einen Nachruf auf berühmte Menschen, zum Beispiel auf Papst Johannes Paul II., wird er dabei nicht selten fündig.

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