Medizin:Die Heilkraft der Kälte

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Bei Verletzungen und Schwellungen ist Kühlung zweifellos angenehm. Doch lassen sich gar Lähmungen mit eisigen Infusionen beheben?

Werner Bartens

Kevin Everett machte sich selbst das schönste Weihnachtsgeschenk. Zwei Tage vor Heiligabend besuchte der 25-jährige Football-Star der NFL das Heimspiel seiner Mannschaft, der Buffalo Bills. Er plauderte vor dem Match mit seinen Teamkameraden und schlenderte durch die Zuschauerränge. Dreieinhalb Monate zuvor hätte das kaum ein Fan der Buffalo Bills für möglich gehalten, zumindest keiner, der am 9. September 2007 im Stadion oder vor dem Fernseher saß.

Bei Schwellungen ist die Anwendung von Eis zweifellos hilfreich - hier der verletzte Fußballer Christoph Metzelder 2007. (Foto: Foto: dpa)

Damals war Everett zuletzt in der Arena gewesen, als Verteidiger im Football-Team aus Buffalo. Er musste das Stadion allerdings im Notarztwagen verlassen, vom Hals abwärts war er gelähmt. Im Spiel gegen das Team der Denver Broncos war Everett in einem - für Maßstäbe des American Football üblichen und harmlos aussehenden - Zweikampf mit seinem Gegenspieler Domenik Hixon aneinander geraten.

Die beiden Sportler krachten mit den Helmen gegeneinander, Everett hatte kurz vor dem Zusammenprall noch den Kopf gesenkt. Er ging mit dem Gesicht nach unten zu Boden und blieb etwa 15 Minuten lang regungslos auf dem Rasen liegen, während sich Ärzte und Sanitäter um ihn bemühten.

Die Mediziner, die ihm zu Hilfe kamen, schilderten, dass Everett auf dem Football-Feld zwar bei vollem Bewusstsein war, Arme und Beine aber nicht bewegen konnte. Im Krankenhaus wurde er vier Stunden lang operiert, um seine dritten und vierten Halswirbel auszurichten und mit einer Titanplatte zu stabilisieren. Anschließend begann die erstaunliche Heilungsgeschichte des Sportlers.

Einen Tag nach dem Unfall konnte er die Knie etwas bewegen. Nach drei Tagen wackelte er mit den Zehen und führte seine Knie gegeneinander. Nach fünf Tagen streckte Everett die Finger, nach einer Woche richtete er sich selbständig im Bett auf und aß ohne fremde Hilfe. Zwei Wochen später wurde er in eine Reha-Klinik verlegt, wo seine Genesung kontinuierlich Fortschritte machte.

Den Grund für die erstaunliche Heilung sieht der Arzt, der Everett als erster behandelt hat, in ein paar Beuteln Eislösung zur rechten Zeit. Andrew Cappuccino, Wirbelsäulenchirurg aus Buffalo, kühlte den Körper des Sportlers bereits im Notarztwagen auf dem Weg in die Klinik auf 33,3 Grad Celsius herunter und behielt die Temperatur für 24 Stunden bei. Dazu stellte er die Klimaanlage im Auto auf die niedrigste Stufe und forderte in der Klinik Kältedecken an.

"Alles großer Quatsch"?

Vor allem aber spritzte er noch während der Fahrt zwei Liter eiskalte Kochsalzlösung in die Venen des Football-Spielers. "Ich glaube schon, dass der rasante Heilungsprozess auf die schnelle Kältetherapie zurückzuführen ist", sagt Cappuccino. "Eine derart rasante Verbesserung sehen wir bei Wirbelsäulenverletzten, die nicht mit Eis-Infusionen behandelt werden, normalerweise nicht."

Mediziner sind sich jedoch uneinig darüber, ob Kälte Schwerverletzten wirklich hilft oder vielleicht eher schadet. "Alles großer Quatsch", sagt Dietmar Stolke, Direktor der Neurochirurgie am Universitätsklinikum Essen. "Wir haben das auch versucht, etwa bei Schädel-Hirn-Verletzten - das hat nicht nur nichts gebracht, sondern den Leuten sogar geschadet, weil Elektrolyte und Stoffwechsel durcheinander gerieten."

Zudem bliebe unklar, ob und wie stark bei dem Football-Star das Rückenmark tatsächlich geschädigt gewesen sei. Bei einem Zusammenstoß wie dem der beiden Sportler könne es auch zu einem "spinalen Schock" kommen. "Wenn jemand von der Leiter stürzt oder die Kellertreppe runterfällt, wird das Rückenmark erschüttert und stellt kurzzeitig die Funktion ein, ohne morphologisch geschädigt zu sein", sagt Stolke. "Davon erholt man sich nach drei bis vier Tagen wieder und es geht dann immer besser."

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Es gehört zur alltäglichen Erfahrung, dass eine mit Eis gekühlte Beule schneller wieder abschwillt. Ärzte wissen auch, dass immer wieder Kinder auf zugefrorenen Seen einbrechen und ohne Sauerstoffzufuhr bis zu einer halben Stunde im eisigen Wasser bleiben, ohne dass ihr Gehirn oder andere Organe Schaden nehmen. Die Kälte schützt das Gewebe und senkt den Stoffwechsel ab, sodass - wie in einem plötzlichen Winterschlaf - weniger Sauerstoff und Energie nötig sind. Kinder haben bessere Chancen zu überleben als Erwachsene, weil sie schneller durchkühlen und ihre Lebensvorgänge rascher auf Eis gelegt werden.

Der tragische Fall zweier Brüder, die im Eis einbrachen, zeigt, dass der Schaden wohl von der Körpermasse abhängt. Der jüngere Bruder blieb 20 Minuten unter dem Eis, bis er gerettet wurde. Er überlebte den Sauerstoffentzug unbeschadet. Der ältere Bruder, der genauso lange in dem kalten Weiher eingeschlossen war, ist seit dem Unfall geistig und körperlich behindert.

Therapie mit Tiefkühl-Pommes

In der Anästhesie- und Notfallmedizin wird das Kühl-Prinzip ebenfalls angewendet. Nachdem in Bonn ein Mann in einem Supermarkt einen Infarkt erlitten hatte, kühlten Ärzte seinen Körper kurzerhand mit mehreren Tüten Pommes aus der Gefriertruhe. Wiederum bestand das Ziel der Mediziner darin, nach dem Herzkreislaufstillstand weitere Gewebeschäden zu verhindern.

Wenn Patienten ins künstliche Koma versetzt werden, kühlen Mediziner den Körper ebenfalls zumeist ab. "Das ist ein Zustand am Rande des Lebens, eine Vita minima", sagt Manfred Abel, Chef der Anästhesie am Krankenhaus Köln-Porz. "Das künstliche Koma ist eine medizinische Schutzmaßnahme, denn dadurch sinken Sauerstoffbedarf und Energieverbrauch der Organe und dem Körper wird die Möglichkeit zur Erholung gegeben."

Seit den 1960er-Jahren experimentieren Ärzte zwar immer wieder mit der Hypothermie, wie die Abkühlung von innen genannt wird, überzeugend waren die Ergebnisse bisher aber nicht. Wegen der Gefahr von Thrombosen und Elektrolytstörungen kritisieren viele Ärzte die Kältetherapie. Eine Studie von Neurochirurgen, die große Hoffnung in die kühle Methode setzten, brachte enttäuschende Ergebnisse: Patienten mit Hirnverletzungen, die innerlich abgekühlt wurden, mussten länger im Krankenhaus bleiben und wiesen mehr Komplikationen auf als jene, die normal temperiert blieben. In einer Übersichtsarbeit im Fachblatt Critical Care kam der australische Intensivmediziner Stephen Bernard 2004 zu dem Schluss, dass "der Effekt der therapeutischen Abkühlung unklar sei".

"Es scheint in diesem Fall vielleicht etwas genutzt zu haben", sagt Robert Cantu, Neurologe und Sportmediziner aus Boston über die erstaunliche Genesung von Kevin Everett. "Aber ob die Kälte wirklich die Ursache für die schnelle Heilung ist, lässt sich kaum sagen. Vielleicht wäre es sowieso so gekommen." Genauso wenig ließe sich ausschließen, dass der prompte Kälteschock nach dem Zusammenprall nicht geholfen habe.

Auch wenn sich für Gelähmte - in den USA verletzen sich jährlich 11 000 Menschen an der Wirbelsäule, in Deutschland erleiden etwa 1000 eine Querschnittslähmung - die schnelle Kältetherapie als segensreich erweisen sollte, bleibt ihre breite Anwendung utopisch. "Wie soll man Patienten so schnell runterkühlen, wenn gerade keine Ambulanz an der Ecke steht", fragt James Weinstein, Herausgeber des Fachblatts Spine, das auf Leiden der Wirbelsäule spezialisiert ist.

© SZ vom 16.2.2008/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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