Medikamentenforschung:Die Pille für jede Lebenslage

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Manche Ärzte möchten verschiedene Wirkstoffe in einer Einheits-Arznei kombinieren, um den ärgsten Zivilisationsleiden den Garaus zu machen. Diabetiker sind die ersten Probanden.

Werner Bartens

Schön wäre es ja. Die Pille danach, davor und dazwischen - das Medikament für alle Lebenslagen. Sorgenfrei ließe sich genießen und über die Stränge schlagen, schließlich gibt es Hilfe aus der Apotheke. Ärzte schwärmen deshalb gelegentlich davon, verschiedene Wirkstoffe in einer Tablette zu kombinieren, um den ärgsten Zivilisationsleiden den Garaus zu machen.

Eine Pille gegen alles - davon Träumen manche Mediziner. (Foto: Foto: istock)

Einen Schritt in diese Richtung propagieren Mediziner in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Lancet: Sie wollen allen Zuckerkranken Fettsenker aus der Gruppe der Statine verordnen (Bd.371, S.117, 2008). "Menschen mit Diabetes haben ein klar erhöhtes Risiko für Herzkreislaufleiden", sagt Colin Baigent, der die Studie geleitet hat. "Wir sehen, dass Statine bei jedem Diabetiker sehr effektiv sind."

Nur wenige Zuckerkranke sollen von der flächendeckenden Pillenschluckerei ausgenommen werden, etwa Schwangere und Kinder. Für den großen Rest seien die Ergebnisse zu überzeugend, "unabhängig von Gefäßschäden und Fettwerten", wie die Autoren betonen.

Baigent und die anderen Fettforscher hatten in einer Metaanalyse untersucht, welche Folgen es für mehr als 18.000 Diabetiker und 71.000 Nichtdiabetiker hat, wenn ihre Cholesterin-Werte gesenkt werden.

"Mir sträuben sich die Haare"

Nach einer Beobachtungszeit von viereinhalb Jahren konnte die Sterblichkeit unter den Diabetikern um neun Prozent gesenkt werden. Nach einem anderen Rechenmodell treten 42 weniger Infarkte, Schlaganfälle und andere schwere Kreislaufleiden auf, wenn 1000 Diabetiker fünf Jahre lang Statine bekommen.

"Unsere Studie zeigt, dass alle Diabetiker in hohem Maße von der Therapie profitieren", schreiben die Autoren. Der Pharmakologe Bernard Cheung von der Universität Birmingham preist die Statine im Lancet sogar als "einen der größten Triumphe der modernen Medizin".

Erst am Ende seines Beitrags erwähnt er, dass gesunde Ernährung und Bewegung auch sehr wichtig seien, um Herzerkrankungen bei Diabetikern zu verhindern.

"Was rechnerisch richtig ist, muss im Leben nicht stimmig sein", sagt Martin Reincke, Diabetes-Experte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Statine mit der Gießkanne zu verteilen, wäre das Ende aller nicht-medikamentösen Präventionsbemühungen und das Gegenteil individualisierter Medizin. Mir sträuben sich die Haare."

Natürlich seien Statine nützliche Medikamente, die schon vielen Patienten geholfen hätten. Aber mit solchen Ansätzen würden ganze Bevölkerungsgruppen pathologisiert. Wenn 42 von 1000 Patienten von der Behandlung profitieren, würde das immerhin auch bedeuten, dass mehr als 950 umsonst behandelt würden.

"Welche Nebenwirkungen hat das, wie verträgt sich das mit dem Alltag?", fragt Reincke. Das Risiko für Komplikationen steigt, wenn verschiedene Mittel kombiniert werden.

Wegen solcher unklaren Wechselwirkungen war das als Lipobay bekannt gewordene Cerivastatin 2001 nach mehreren Todesfällen vom Markt genommen worden.

Britischer Freilandversuch

"Der Arzt muss sich über das individuelle Risiko seiner Patienten schon klar werden", sagt Peter Sawicki, Diabetes-Experte und Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG).

"Allen Zuckerkranken vorbeugend Statine zu geben, ist zu platt." Zwar könne man bei 65-jährigen Diabetikern mit hohem Blutdruck zu 90Prozent sicher sein, dass sie verengte Herzkranzgefäße haben und ihnen Cholesterinsenker nützen.

Laut Sawicki gebe es jedoch eine Unter- wie auch eine Übertherapie mit Statinen: Patienten mit Koronarer Herzkrankheit (KHK) aber normalen Cholesterinwerten würden von den Mitteln profitieren, aber häufig keine bekommen. Diabetiker ohne KHK bräuchten hingegen keine Fettsenker, schlucken aber oft welche.

"Hier ist der Arzt gefordert, exakte Diagnosen zu stellen", sagt Sawicki. "Sonst können Patienten auch von Automaten behandelt werden oder die Krankenkassen allen Diabetikern Rezepte schicken."

Die Idee, ein Medikament vorbeugend allen Diabetikern zu geben, ist nicht neu. Es gab schon viel umfassendere Vorschläge - eine Pille für alle und gegen alles. Nick Wald und Malcolm Law vom Institute of Preventive Medicine in London hatten 2003 im British Medical Journal die "Polypill" angeregt: Ein Medikamenten-Cocktail aus drei Blutdrucksenkern, Aspirin, Folsäure und einem Fettsenker sollte allen Menschen jenseits der 55 verordnet werden.

Die beiden britischen Professoren hatten ein Rechenmodell entwickelt, wonach sich mit der "Polypill" die Häufigkeit von Herz-Kreislaufleiden um mehr als 80 Prozent senken ließe.

Der Vorschlag fand zwar Befürworter, stieß aber auch auf vehemente Kritik. "Was ist mit denen, die eine solche Polypill nicht vertragen oder die keinen Nutzen davon haben", warnte der Arzneimittelexperte Mark Powlson. Der Mediziner Adrian Midgley fühlte sich an die zynische Ärztehoffnung auf "Gerifix" und "Gerifix forte" erinnert - Medikamente, welche die vielen Arzneien kombinieren würden, die auf geriatrischen Stationen tonnenweise verabreicht werden.

Statine, die zweifellos Teil dieser Kombination wären, gehören zu den erfolgreichsten Medikamenten der Pharmageschichte. In Deutschland haben Kassenärzte nach Angaben des Arzneiverordnungs-Reports 2007 Statine im Wert von mehr als 500 Millionen Euro verschrieben. Ihren Erfolg verdanken Statine einer besonderen Wirkung: Sie können bei überstandenem Infarkt einem weiteren Herzschlag vorbeugen.

Mehr Sicherheit - mehr Risiko?

Im Jahr 2006 wurden laut Arzneiverordnungs-Report in Deutschland 1,737 Milliarden Tagesdosen verschrieben - genug für die Therapie von 4,8 Millionen Patienten. Dem stehen nach Schätzungen in Deutschland 1,5 Millionen Überlebende eines Infarkts gegenüber. Es werden also deutlich mehr Mittel verschrieben als nötig wären, um diese Patienten zu behandeln.

Die Briten scheinen der Vision von der Pille für jede Lebenslage schon näher gekommen zu sein. 2004 wurde in Großbritannien der Cholesterinsenker Simvastatin aus der Verschreibungspflicht genommen. Die 10-mg-Dosis des Mittels können die Briten seither rezeptfrei in der Apotheke kaufen.

Wie sicher Simvastatin im Freilandversuch der Briten ist, lässt sich bis heute kaum klären - es gibt noch keine entsprechenden Untersuchungen und diese wären auch schwer umzusetzen, da der Verkauf unkontrolliert erfolgt.

"Man kann durch ein Medikament nicht aus der Sorgfaltspflicht entbunden werden, die man sich selbst gegenüber hat", sagt Internist Reincke. "Dann würde das Empfinden, natürlich gesund zu sein, amputiert werden."

Die Autoversicherer haben bei Einführung des Anti-Blockier-Systems einiges über menschliches Risikoverhalten gelernt. Fahrer mit dem neuen Bremssystem hatten genauso viele Unfälle, weil sie im Vertrauen auf die Schutzwirkung riskanter gefahren sind.

Ähnliche Folgen könnte die flächendeckende Verordnung von Pillen für jede Gelegenheit haben: Die allzeit passende Arznei klingt wie die perfekte Ausrede, sich noch weniger um sich selbst zu kümmern. Das steigert zwar die Umsätze der Pharmabranche. Doch die Menschen werden dadurch nicht gesünder.

© SZ vom 16.01.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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