Zweimal in der Woche werden die Spinnen gemolken. Sarah Strauß holt sie dann aus ihrem auf 27 Grad geheizten Zimmer, bettet sie nebenan rücklings auf ein Schaumstoffkissen, deckt sie mit einem Tuch ab und fixiert sie mit kleinen Nadeln. Am Hinterleib der Spinnen baumelt immer ein kurzes Stück ihres Haltefadens. Den schnappt sich Strauß mit einer Pinzette und fädelt ihn in eine Maschine ein, die den Faden aus der Spinne zieht. "Wenn ich es drauf anlege, kann ich 500 Meter Faden auf einmal melken", sagt Strauß. "Das ist aber anstrengend für die Spinne und wir beschränken es meist auf 100 Meter." Keine 15 Minuten dauert ein Spinnen-Arbeitstag, weh tut das Melken nicht.
Sarah Strauß leitet an der Medizinischen Hochschule Hannover das Spider Silk Laboratory, sie erforscht die Seide der Spinnen. "Das Material hat überaus interessante Eigenschaften", sagt Strauß, "es ist sehr reißfest und dazu elastisch." Doch der größte Vorteil: Spinnenseide ist biologisch abbaubar. Genau das eröffnet ganz neue Möglichkeiten für die Medizin.
Künstliche Spinnenseide vertreibt Bakterien. Das wissen inzwischen auch Turnschuh-Herstelle
Zum einen kann die Seide helfen, kaputte Nerven zu regenerieren. Etwa wenn diese bei einem Unfall durchtrennt wurden. Nerven können wieder zusammenwachsen, doch schnell entstehendes Narbengewebe blockiert ihnen oft den Weg. "Wir nehmen eine Vene vom Patienten", sagt Strauß, "und ziehen Spinnenseide durch." Der Nerv kann so, geschützt vor dem Narbengewebe, am seidenen Faden entlang zusammenwachsen. Spinnenseide hilft in manchen Fällen auch bei der Wundheilung. Verwobene Spinnenfäden könnten zum Beispiel als Nährboden dienen, um darauf künstliche Haut zu züchten, die Verbrennungsopfern implantiert wird. Es würde wohl sogar schon ausreichen, ein kleines Spinnennetz auf Hautverletzungen zu legen, damit die Haut schneller nachwächst - eine Idee, die schon in der Antike umgesetzt wurde. Spinnenseide eignet sich außerdem sehr gut als Nahtmaterial. "Die Fäden sind so dünn wie ein Haar oder sogar noch dünner", sagt Strauß. Zerrissene Nerven könnte man mit den Fäden zum Beispiel wieder zusammennähen. "Bei so einem Eingriff darf keine Spannung auf der Naht sein, sonst geht der Nerv kaputt", sagt Strauß. Ein Glück, dass die Spinnenseide so elastisch ist.
60 bis 70 Nephila-edulis-Spinnen leben momentan im tropisch klimatisierten Zimmer der Hannoveraner. Eine medizinische Revolution lässt sich damit nicht entfachen. Selbst industrielle Spinnen-Farmen hätten aber das Problem, dass sich tierische Produkte nur schwer standardisieren lassen. Wissenschaftler versuchen daher schon seit Jahrzehnten, Spinnenseide künstlich herzustellen.
Lange Zeit wollte das einfach nicht gelingen. Dann schaffte Thomas Scheibel, woran selbst die Forschungsabteilungen großer Konzerne gescheitert waren: 2004 schuf er die erste künstliche Spinnenseide. Der heutige Professor für Biomaterialien an der Universität Bayreuth nutzte dafür einen Trick. Beim Zusammenfügen der aus Spinnen-DNA gewonnenen Gen-Abschnitte verzichtete er auf einige Zwischenstücke und setzte die Gen-Bausteine direkt aneinander. So gewann Scheibel zwar das Protein, einen Faden hatte er aber noch nicht. "Der hat mich anfangs auch gar nicht interessiert", sagt Scheibel, "allein mit den Proteinen kann man tolle Dinge tun."
2008 gründete er die Münchner Firma Amsilk mit, die seither die künstliche Spinnenseide produziert, weiterentwickelt und vertreibt. "Trägt man eine Lösung mit der Seide auf eine Oberfläche auf, bildet sich ein Seidenfilm", sagt Scheibel. Das lässt sich etwa bei Brustimplantaten nutzen, die vom Körper oft abgestoßen werden. "Bei unseren in Seide eingetauchten Implantaten haben wir festgestellt, dass es so gut wie keine Immunreaktion gibt", sagt Scheibel. Die Technik durchläuft gerade letzte Studien und könnte bald marktreif sein. In Kosmetikprodukten kommt die Spinnenseide längst zum Einsatz. Auf Haut, Haaren oder Nägeln bildet sie einen Film, der Wasser bindet und es an die Haut abgibt. Sonstige Chemie wie Silikone sind dann nicht mehr nötig, außerdem wirkt die Schutzschicht bakterienabweisend. Das funktioniert inzwischen auch bei Textilien. 2016 stellte Adidas einen mit Seide produzierten, müffelfreien Turnschuh vor.
Das Münchner Team hat mittlerweile auch einen Weg gefunden, aus den Proteinen winzige Transport-Partikel zu formen, die kleiner als ein Mikrometer sind. Die Forscher testen, ob sie damit Wirkstoffe in Gewebe und sogar Zellen schleusen können. "Die Partikel sind so klein, dass Zellen sie grundsätzlich aufnehmen können", sagt Scheibel. "Krebszellen etwa können wir so von innen töten, wenn nach der Aufnahme der Partikel diese ihre Wirkstoffe freisetzen." Eine systemische Ganzkör- per-Therapie könnte zumindest überflüssig werden. Ob es die Technik jemals in die Kliniken des Landes schafft, ist eine andere Frage.