Lexikalische Bildung:Der Nachleser

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Er hat seinen Plan tatsächlich verwirklicht, A. J. Jacobs, hat den Jahrgang 2002 der Encyclopedia Britannica von Anfang bis Ende gelesen, Artikel für Artikel. Und ein Buch darüber geschrieben.

Birgit Weidinger

Damit wollte er seine Bildungslücken schließen und in einer Zeit "extremer Spezialisierung der letzte universalgelehrte Amerikaner sein." Wenn nicht gar der klügste Mensch der Welt.

A. J. Jacobs heißt der Mann, der es mit der Britannica aufgenommen hat. Er ist 38 Jahre alt und arbeitet als leitender Redakteur beim Magazin Esquire in New York.

Um sein Wissen aufzufrischen, das er als Student an der Brown University erworben hatte und das immer lückenhafter wurde, las er 75.000 Artikel auf 33.000 Seiten. Ein Jahr dauerte diese Lektüre und die Arbeit an dem Buch, das er über seine Erfahrung schrieb ("The Know-It-All"; Deutsche Ausgabe: Britannica & ich, List-Verlag. Übersetzung: Thomas Mohr).

Jacobs kennt jetzt die Essgewohnheiten des französischen Schriftstellers Émile Zola, weiß, wie schnell Elefanten kopulieren und dass Olivenöl eine überaus wichtige Rolle beim Bau der ägyptischen Pyramiden spielte.

Doch ist er auch weiser geworden? Auf Originalität bedacht ist er ohne Zweifel, und manchmal verwechselt er im Übereifer die Portion Selbstgefälligkeit, mit der er sein Projekt verkauft, mit Selbstironie.

Begeisterung und Besessenheit für Wörter und Bücher sind nicht neu: Der Bibliomane Johann Georg Tinius wurde 1823 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er, um seine Sammelsucht zu finanzieren, auch vor Mord nicht zurückgeschreckt haben soll.

Und das vielleicht berühmteste Wörterbuch, das Oxford English Dictionary, verdankt seine Entstehung zu großen Teilen einem Freak: Dr. W.C. Minor hieß der wortverliebte, von Wahnideen geplagte Mann, der einen Mord begangen hatte und wegen Schuldunfähigkeit in ein geschlossenes Heim eingewiesen wurde.

Von dort aus schickte der eifrige Wortsucher regelmäßig wichtige Stichwörter an den Herausgeber des Oxford Dictionary. Simon Winchester hat Minor in seinem Buch beschrieben als den "Mann, der die Wörter liebte".

Gescheitert beim Wissensquiz

A. J. Jacobs, "der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden", wie die deutsche Ausgabe seines Buches im Untertitel rühmt, hat aus seiner Britannica-Lektüre flugs ein Digest gemacht: Er wählte einzelne Artikel aus, die er, in Form eigener Erfahrungen, Spekulationen und unter freimütiger Einbeziehung persönlicher und familiärer Erlebnisse, kommentiert.

So wünschen sich seine Frau Julie und er dringend ein Kind, und bis es so weit ist, bemüht er Artikel der Britannica wie Fruchtbarkeit, Geschlechtsverkehr, Empfängnisverhütung, um die Leser dafür zu interessieren, wie A. J. und Julie Nachwuchsförderung betreiben. Das liest sich oft witzig, manchmal wirkt es gewollt komisch.

Doch A. J. erlebt auch Rückschläge. Etwa wenn bei der Teilnahme an dem amerikanischen Quiz "Who Wants to Be a Millionaire?" oder bei einem Kreuzworträtselwettbewerb der Zwang, alles wissen zu müssen und zu wollen, die tatsächlich vorhandene intellektuelle Kapazität unterdrückt - da scheitert der Kandidat am eigenen Anspruch.

Dies gesteht er mit launiger Zerknirschtheit ein - wirklich übel nimmt er es sich natürlich nicht.

Die Zwitterhaltung aus Ernst, Humor, manchmal gewaltsamer Spaßigkeit und bemühter Originalität zieht sich durch das ganze Buch, und so vermittelt A. J. dem Leser halb bewusst, halb unfreiwillig, wie weit der Weg ist vom Wissen zur Weisheit.

Das scheinen die amerikanischen Leser sehr zu goutieren, und auch das Kino interessiert sich für das Thema: Jacobs schreibt gerade am Drehbuch für eine Filmversion des Buches und macht bereits sein nächstes Experiment:

Ein Jahr hat er ganz nach biblischen Gepflogenheiten gelebt, und wieder ist ein Buch darüber fertig geworden: "A Year of Living Biblically".

Einen Esel hat ihn Joe Queenan in der New Yorks Times genannt, einer seiner wenigen und für seine Grummeligkeit bekannter Kritiker. Er wirft dem Alleswisser Mangel an Differenziertheit vor und nennt ihn einen Einfaltspinsel.

A. J. spielt den Beleidigten, weil man "sein Kind" so schlecht behandelt habe. Dabei kann Jacobs" Lektüre-Experiment manchem Konsumenten durchaus zwiespältig oder absurd erscheinen.

Täglich sechs Stunden Lektüre

A. J.s Herausforderer, die Encyclopedia Britannica, ist schließlich ein Nachschlagewerk, das das menschliche Wissen mit möglichst großer Vollständigkeit und mit Tiefgang darstellen möchte.

Sie ist das älteste kontinuierlich weiterentwickelte Werk dieser Art in englischer Sprache. Das Produkt der Schottischen Aufklärung wurde 1768 erstmals in Edinburgh verlegt. Ihr gegenwärtiger Verlag ist die Encyclopedia Britannica inc., Herausgeber von Nachschlagewerken und Büchern für Unterricht und Ausbildung.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist Britannica inc. führend in der Publikation von Wissenstiteln in elektronischen Formaten. Das Unternehmen hat seine Zentrale in Chicago und unterhält Büros weltweit. Die elektronische Version der Encyclopedia wird kontinuierlich entwickelt. Ihre Printausgabe besteht weiterhin.

Mit dieser ehrwürdigen Institution konkurrierte also der Journalist A. J. Gerne gesteht er ein, dass er weitere 20 oder 30 Bücher mit einer Auswahl aus der Britannica hätte füllen können. Die Wahl der Artikel für sein Buch fand er extrem schwierig.

Jeden Tag habe er sechs Stunden gelesen und dann gleich geschrieben, immer mehrere Artikel auf einmal. Er habe nicht geahnt, dass daraus eine Art Kurzbiografie, ein "Semi-Memoir" werden würde, habe nicht gedacht, dass sich die fesselnden Inhalte der Britannica so sehr mit seinem Leben überlappen und verknüpfen würden.

Heute findet er es nützlich, dass so viel Wissensstoff in seinem Kopf herumschwirrt. Sieht er eine Katze, denkt er sofort an die alten Ägypter, die ihre Katzen einbalsamierten und die Mäuse dazu, damit die Katzen in ihrem nächsten Leben etwas zu essen hatten.

Definitiv nachteilig erscheint ihm aber die Tatsache, dass jeder meint, er wisse nun alles. Dauernd werde er mit Fragen bombardiert, zum Beispiel nach dem fünftgrößten Fluss der Welt.

Dass sich diese Entwicklung ergeben musste, würde A. J. nicht abstreiten. "Nach wie vor gibt es Menschen, die smarter sind als ich. Stephen Hawking gehört dazu", sagt er. A. J. ist auch nicht weise geworden, aber er ist zweifellos streetwise, wie das auf Englisch heißt, nämlich gewitzt und clever.

Er bleibt, der er ist, ein Journalist, der der Britannica seinen Respekt dadurch erweist, dass er von ihrem Wissen profitiert: mit einem Gespür dafür, was seine Leser wollen, ohne dass ihnen die Lektüre zu anstrengend wird.

© SZ vom 29.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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