Lebenserwartung und Wohlbefinden:Mitte 60 fängt das Leiden an

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In den europäischen Ländern steigt die Lebenserwartung. Doch das bedeutet nicht, dass es den Menschen auch überall noch lange gutgeht.

Werner Bartens

Wer ein hohes Alter erreicht, hat die Hoffnung, nicht nur mehr Jahre zum Leben, sondern auch mehr Leben zu den Jahren hinzuzufügen. Bisher war jedoch ungewiss, ob die gestiegene Lebenserwartung auch mit einer verlängerten Lebensqualität und mehr gesunden Jahren einhergeht.

Die Menschen in Europa werden immer älter. (Foto: Foto: AP)

Neuen Ergebnissen eines internationalen Forscherteams um Carol Jagger von der Universität Leicester zufolge führt die hohe Lebenserwartung in vielen Ländern Europa womöglich in die Irre. Sie sagt offenbar wenig darüber aus, wie es den Menschen wirklich geht. Die Wissenschaftler haben ihre Ergebnisse vorab online im Fachmagazin Lancet veröffentlicht.

"Wir müssen uns fragen, ob die Länder mit der höchsten Lebenserwartung tatsächlich auch die gesündesten sind", sagt Jagger. "In Großbritannien sieht es beispielsweise besser aus, als die Lebenserwartung vermuten lässt." Gerade im Alter gibt es große Unterschiede im Wohlbefinden. Auch wenn die Lebenserwartung in den meisten Ländern bei annähernd 80 Jahren oder darüber liegt, erleben viele Senioren ihre letzten Jahre krank oder behindert.

Wie viel Zeit im Alter in guter Gesundheit verbracht werden kann, variiert innerhalb Europas sehr stark. Um die Differenzen herauszuarbeiten, sind die Gesundheitswissenschaftler und Epidemiologen nach einer besonderen Methode vorgegangen. Sie haben in 25 europäischen Ländern die Lebenserwartung für Menschen berechnet, die bereits die 50 erreicht haben.

Zusätzlich erfassten sie, in welchem Alter die Menschen jenseits der 50 krank wurden und bestimmten daraus, wie viele gesunde Lebensjahre ihnen noch verbleiben würden. Die besten Aussichten gibt es demnach für ältere Menschen in Dänemark, Schweden, Italien, Griechenland, Großbritannien und den Niederlanden. Als 50-Jährige haben sie statistisch gesehen die Chance, dass sie noch etwa 30 Jahre leben - und etwa 20 Jahre davon in guter Gesundheit verbringen.

Schlechter sind die Perspektiven hingegen für Bewohner derjenigen Länder, die im Mai 2004 mit der Osterweiterung zur Europäischen Union hinzugekommen sind. In den baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland, sowie in Ungarn und der Slowakei liegt die Lebenserwartung für 50-jährige Männer bei nur 71 oder 72 Jahren.

Aber höchstens die Hälfte der etwa 20 Jahre, die noch vor ihnen liegen, werden sie wohl bei guter Gesundheit verbringen. Die Frauen leben in diesen Staaten zwar deutlich länger als die Männer und werden 80 Jahre und damit fast so alt wie ihre Geschlechtsgenossinnen in Westeuropa. Doch auch den Frauen im Baltikum, in Ungarn und der Slowakei drohen im Durchschnitt schon mit Anfang 60 verschiedene Gebrechen.

Erstaunlich schlecht sieht die Prognose für ältere Menschen in Deutschland und Österreich aus. Hier klafft eine große Lücke zwischen der Lebenserwartung und den gesunden Jahren, die man noch erwarten kann. Zwar haben 50-jährige Männer in beiden Ländern eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 79 Jahren.

Beschwerdefrei werden davon aber wohl nur die ersten 14 Jahre sein. Ab Anfang, Mitte 60 droht das Siechtum. Frauen, die einmal die 50 erreicht haben, werden in Deutschland und Österreich im Mittel sogar 83 Jahre alt. Aber auch sie müssen schon nach etwa 15 Jahren mit diversen Krankheiten rechnen. Ähnlich düstere Aussichten gibt es - außer in den Ländern im Osten der EU - sonst nur noch in Finnland.

21 Jahre Unterschied

Das internationale Forscherteam hat soziale Faktoren untersucht, die erklären könnten, warum zum Beispiel die Unterschiede zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Frankreich so groß sind. Die Menschen dort haben immerhin sechs bis zehn mehr beschwerdefreie Jahre vor sich. Bei Männern ging Langzeitarbeitslosigkeit ab 55 und ein erhöhtes Armutsrisiko mit früherem und häufigerem Leid im Alter einher.

Umgekehrt zeigte sich, dass Fortbildungen, Aufbaukurse, kurz: lebenslanges Lernen, zu mehr gesunden Jahren im Alter führen. Zudem ergaben die Analysen der Gesundheitswissenschaftler, dass die Menschen schon ein gesundes Jahr mehr erwarten könnten, wenn die Ausgaben für die Betreuung älterer Menschen um ein Prozent erhöht würden.

"Für Politiker bieten diese Berechnungen hilfreiche Vergleichsmöglichkeiten", sagen Errol Crook und Terry Hundley von der University of South Alabama. "Sie sagen viel mehr aus als die Lebenserwartung." So beträgt die Lebenserwartung in den USA - wie in den meisten europäischen Ländern - fast 80 Jahre. Trotzdem können diejenigen, die zur privilegiertesten Bevölkerungsgruppe gehören in den USA mit 21 mehr Lebensjahren rechnen als jene, die benachteiligt sind.

© SZ vom 18.11.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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