Leben mit dem Klimawandel:Ein Blick in den Abgrund

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Forscher aus aller Welt sind sich einig, dass ein Temperaturanstieg nicht mehr zu verhindern, sondern nur noch zu begrenzen ist

Christopher Schrader

Es ist ein gefürchteter Satz bei Familienfeiern: "Meine Güte, was bist du groß geworden", sagen entfernte Tanten. Den Eltern ist das oft peinlich: Sie haben gar nicht bewusst wahrgenommen, dass der Sprössling jeden Tag ein bisschen gewachsen ist.

In der Klimaforschung ist es ähnlich: Ständig werden Fachartikel veröffentlicht, deren Autoren diesen oder jenen Aspekt der globalen Erwärmung noch genauer nachmessen oder simulieren, als es bisher möglich war. Doch der große Schock über die Veränderungen setzt erst ein, wenn die Daten zusammengefasst und auf einen Blick bewertet werden. Genau das ist Aufgabe des Weltklimarats IPCC, der Ergebnisse sammelt und mit dem Prüfsiegel der globalen Forschergemeinde veröffentlicht.

Eigentlich wollte das Forschergremium damit bis zum 2. Februar 2007 warten, doch nun ist ein Entwurf des wichtigsten Teils ihres Reports durchgesickert. "Das war eigentlich zu erwarten", sagt Ulrich Cubasch von der Freien Universität Berlin, der am ersten Kapitel des Reports mitarbeitet, "der Entwurf lag schließlich auch bei den Regierungen."

Bevor der IPCC seinen Bericht vorlegt, bekommen sehr viele Beteiligte die Gelegenheit, Kommentare abzugeben. In der ersten Phase sind nur Fachwissenschaftler gefragt, in der jetzigen, der zweiten Phase auch Regierungen. Nun hat sich die Administration in Washington entschlossen, jedermann den Zugang zu den an sich vertraulichen Dokumenten zu erlauben, E-Mail genügte.

Strategische Vorabveröffentlichung?

Vielen Klimaforschern kommt die Veröffentlichung ungelegen. "Der Entwurf hat noch Schwächen und muss verbessert werden", sagt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung; er ist einer der Autoren für das Kapitel sechs, das sich mit der Rekonstruktion des Klimas der Vergangenheit beschäftigt. Manche Forscher haben der Regierung in Washington darum unlautere Absichten unterstellt: Sie wolle den Nachrichtenwert des Berichts untergraben, indem sie einzelne Ergebnisse vorab bekannt mache.

Zugleich sollten, so der Vorwurf, Klimaskeptiker in Amerika, die den Einfluss des Menschen auf das Klima bestreiten, die Gelegenheit bekommen, die Zahlen zu zerpflücken, während die etablierten Forscher noch an endgültigen Formulierungen feilen.

Doch auch wenn das der Regierung von Präsident George W. Bush vielleicht gelegen käme: Sie hat die Freigabe nicht erfunden. Schon unter Bushs Vorgänger Bill Clinton wurden die Entwürfe gestreut, wie der damals zuständige Programmdirektor im Wissenschaftsjournal Nature klarstellte.

Ohnehin enthält der Entwurf in seinen Details kaum große Neuigkeiten. Denn die Kapitel beruhen ausschließlich auf Aufsätzen, die in renommierten, begutachteten Fachzeitschriften erschienen sind. "Was sich aber ändert, ist der Ton", sagt Hans von Storch vom Forschungszentrum GKSS in Geesthacht. "Es geht jetzt weniger um eine Vermeidung oder Verminderung des globalen Wandels, sondern mehr um eine Anpassung daran."

Denn darin stimmt von Storch mit allen Kollegen überein. Die globale Erwärmung mit Folgen für das Klima sowie die Kapriolen des Wetters sind kaum noch zu verhindern. Die Erde wird sich drastisch erwärmen: um 1,5 bis 5,8 Grad Celsius - je nachdem, wie gut der Ausstoß von Treibhausgasen noch begrenzt werden kann. Der Anstieg ist ohne Zweifel von Menschen verursacht. Das freigesetzte Kohlendioxid heizt die Erde dreizehnmal so stark auf wie die Veränderung der Sonnenaktivität seit 1750.

Über diese Fakten und Zahlen wird in den kommenden Wochen aber noch einmal intensiv debattiert werden. Am kommenden Freitag endet die Frist für die Abgabe von Kommentaren zum Entwurf. Schon auf die erste Fassung hatten Cubasch 700 und Rahmstorf 1000 solcher Einwürfe bekommen und mit den Kollegen schriftlich bearbeiten müssen. Dazu durften sich Regierungen und die von ihnen befragten Fachleute noch nicht zu Wort melden. )

© SZ vom 31.05.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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