Krankheitsbild:Unter fremden Freunden

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Gesichtsblinde können gut sehen, erkennen mitunter aber nicht einmal ihre Verwandten - der Defekt ist weitgehend unerforscht.

Von Hubertus Breuer

Wenn Mordechai Housman von seinem ungewöhnlichen Leben erzählt, ist viel Bewegung in ihm. Mit seinen Händen unterstreicht er Sätze, mit den Füßen setzt er Punkte und seine Augen fügen Pointen Ausrufezeichen an.

Ob man Marylin auch ohne Haare erkennen würde? (Foto: Foto: Reuters)

Während sich sein Bürostuhl unaufhörlich dreht, reiht der korpulente Sekretär einer Abendschule im New Yorker Stadtteil Brooklyn Anekdoten über das Leiden aneinander, mit dem er seit Kindesbeinen lebt: Housman kann sich keine Gesichter merken.

"Schüler, selbst Lehrer, die in mein Büro kommen, muss ich zuerst nach ihrem Namen fragen. Auch wenn ich ihr Gesicht schon Dutzende Male gesehen habe, bleibt es für mich weitgehend bedeutungslos."

Viele wissen nichts von ihrem Leiden

Dabei hat Housman gewiss kein schlechtes visuelles Gedächtnis. An Häuser in der Nachbarschaft, an Orte und Landschaften oder an Möbelstücke erinnert sich der orthodoxe Jude mühelos. Aber die Gesichter seiner Eltern und selbst die seiner Frau und Kinder kann er beim besten Willen nicht beschreiben.

Wenn er den Kopf in seinem Neon-beleuchteten Dienstzimmer für einen Augenblick zur Seite dreht, weiß er schon nicht mehr zu sagen, ob der Reporter eine Brille trägt oder nicht. Gesichtsblindheit nennt sich seine Wahrnehmungsstörung. Und Housman ist ein ausgesprochen schwerer Fall. Denn das Leiden trifft womöglich viele Menschen, die bislang gar nichts davon wissen. Nur langsam kommen Genetiker, Kognitions- und Neuropsychologen den Ursachen und Mechanismen dieses Defekts auf die Schliche.

Lange Zeit ein Randphänomen

Ohne Gesichter könnten wir uns auf der Straße, im Café, in Filmen oder Träumen und auch zu Hause nur schwer orientieren. Die Visagen anderer Personen sind ein Richtungsweiser durch die soziale Welt, in ihm lesen wir Glück und Trauer ab, in ihm fokussiert sich unser Selbstverständnis.

Da ist es schwer vorstellbar, durchs Leben zu gehen, ohne sich ein einziges Antlitz einprägen zu können. "Mein Sohn soll mir wie aus dem Gesicht geschnitten sein", erzählt Housman. "Mir sagt das leider gar nichts."

Seit langem gibt es Berichte über die kuriose Störung, die in der psychologischen Fachliteratur auch Prosopagnosie genannt wird. Da geht es vor allem um Menschen, die nach Kopfverletzungen oder Schlaganfällen ihre Freunde und Verwandten nicht mehr erkennen.

Aber eine britische Psychologin veröffentlichte auch einen Fall angeborener Gesichtsblindheit schon im Jahr 1976. Dennoch blieb dieses Handikap lange Zeit ein Randphänomen, weil niemand wusste, wie es zu dem Unvermögen kommt und wie verbreitet es ist. So debattieren Forscher seit Jahrzehnten, ob der Mensch die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gesichtern einem eigenen Modul im Gehirn verdankt oder ob es sich dabei nur um einen Spezialfall seiner Fähigkeit handelt, Objekte zu erkennen.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Erst jetzt glauben Wissenschaftler vom Vision Sciences Laboratory der Harvard-Universität mit zwei Studien endlich belegen zu können, dass Menschen Gesichter unabhängig von anderen Objekten erkennen. Die Kognitionspsychologen zeigten gesichtsblinden Personen Bilderserien mit Autos, Waffen, Häusern und Gesichtern.

Allerdings hatten alle Gesichter Glatzen, damit sich die Versuchsteilnehmer die Köpfe nicht anhand der Frisuren einprägen konnten. Tatsächlich konnten die Probanden die Gegenstände problemlos wiedererkennen, während sie mit den Gesichtern erhebliche Schwierigkeiten hatten.

Mittlerweile haben Neuropsychologen auch herausgefunden, wo und wie sich der Vorgang der Gesichtswahrnehmung unter unserer Schädeldecke abspielt. So sortiert das Gehirn offenbar zunächst alle optischen Eindrücke schubladenhaft danach, ob es sich um ein Gesicht oder um ein anderes Objekt handelt.

Entdeckt ein Mensch inmitten der optischen Datenflut eine Visage, werden drei Gehirnareale besonders aktiv, wie ein Team um Pia Rotshtein vom University College London gezeigt hat.

Die Neuropsychologin präsentierte ihren Versuchspersonen keine willkürliche Portraitgalerie, sondern paarweise die Schnappschüsse zweier berühmter Persönlichkeiten, zum Beispiel Margaret Thatcher und Marilyn Monroe. Dabei lagen die Probanden in einem Magnetresonanztomographen, mit dem Rotshteins ihnen unter die Schädeldecke gucken konnte.

Stimme und Haarfarbe als Erkennungsmerkmale

Aus den Versuchen ergab sich, dass ein Areal im Okzipitallappen an der Rückseite des Gehirns offenbar die Physiognomie analysiert: Es arbeitete immer dann besonders intensiv, wenn zwei Aufnahmen dieselbe Person zeigten, sich aber deutlich unterschieden.

Waren auf den beiden Fotos aber unterschiedliche Personen zu sehen, meldete sich das fusiforme Gesichtsareal, das sich im Schläfenlappen hinter dem Ohr befindet. Dort, so Rotshtein, ruft der Mensch offenbar die Identität einer Person ab. Bei Gesichtsblinden leuchtete das Areal denn auch meist nicht auf, wenn sie Personen betrachteten.

Mit ihrem Leben kommen die Gesichtsblinden meist trotzdem gut zurecht. Wenn der Defekt angeboren ist, entwickeln sie von Kindesbeinen an Strategien, Mitmenschen an anderen Merkmalen als dem Gesicht zu erkennen. Sie behelfen sich vorwiegend mit der Stimme, der Haarfarbe oder der Art, wie jemand geht.

"Deshalb ist die Wahrnehmungsstörung unter Psychologen und Medizinern noch weithin unbekannt", sagt der Arzt Thomas Grüter, der selbst gesichtsblind ist. Gemeinsam mit seiner Frau Martina arbeitet er am Institut für Humangenetik der Universität Münster.

Eigenes Gesicht erschließt sich nur aus Kontext

Im Jahr 2003 haben die beiden untersucht, wie viele Menschen unter Gesichtsblindheit leiden - und sind zu einer erstaunlich hohen Zahl gekommen (siehe Text unten). Die betroffenen Kinder würden häufig fälschlicherweise für Autisten gehalten, weil sie sich oft schwer tun, Kontakt zu finden, so Grüter.

Einer besonders ungewöhnlichen Methode bedient sich Mordechai Housman, um sich die fremd bleibenden Gesichter doch einzuprägen: Er nutzt die Mimik - die Art etwa, wie bei seinem Gegenüber der Mundwinkel zuckt, wie eine Bartspitze zittert oder wie sich beim Lachen Grübchen bilden.

Die charakteristischen Merkmale fügen sich für Housman jedoch nie zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Selbst mit dem eigenen Antlitz hat er Schwierigkeiten. "Wenn ich vor dem Spiegel stehe, weiß ich natürlich, dass ich mein eigenes Gesicht sehe", erzählt Housman mit einer Prise Selbstironie. "Aber das erschließe ich nur aus dem Kontext."

© SZ vom 21.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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