Kommentar:Leiden lernen

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Sebastian Herrmann fällt es zu fast jeder Uhrzeit schwer, aus dem Bett aufzustehen. (Foto: N/A)

Die destruktive Macht der Psyche wird unterschätzt und ignoriert. Ein Vorfall auf einem Langstreckenflug sollte das ändern und zu denken geben.

Von Sebastian Herrmann

Neulich auf einem Flug der British Airways von San Francisco nach London. Kurz nach dem Start fühlen sich mehrere Mitglieder der Crew unwohl, Schwindel, Übelkeit - und einige klagen über einen eigenartigen Geruch in der Kabinenluft. Viele bemerken den Gestank nicht, aber fast jeder nimmt ihn wahr, der darauf angesprochen wird. Die Maschine landet außerplanmäßig in Vancouver, 25 Crewmitglieder werden ins Krankenhaus gebracht. Die Passagiere? Bleiben konsterniert sitzen, in die Klinik wird keiner gebracht. Zu Recht, denn wie bald darauf herausstellt, fehlt den Crew-Mitgliedern nichts. In der Kabinenluft wird kein giftiger Stoff gefunden.

Die destruktive Macht der Psyche raubte das Bewusstsein

Neulich in Vietnam. In einer Fabrik der Bekleidungsindustrie beklagten sich Arbeiterinnen über einen seltsamen Duft, der bei ihnen Atemschwierigkeiten und Übelkeit verursache. Mehr als 60 Frauen fallen in Ohnmacht. Nach Untersuchungen im Krankenhaus wurden alle rasch wieder entlassen. Ein Toxin in der Atemluft konnte nicht gefunden werden. Auch hier wirkte mutmaßlich soziale Ansteckung: Die Arbeiterinnen infizierten einander mit ihren Ängsten und verbreiteten so tatsächlich empfundenes Leid.

Die beiden Vorfälle sind mehr als nur kuriose Anekdoten, sie sollten einer Gesellschaft zu denken geben, die schier wahnhaft auf das Thema Gesundheit fokussiert ist und überall Gefahren wittert. Dahinter steckt sogenannte soziale Ansteckung, die sich zu Hysterien aufblasen kann. Irgendjemand äußert Ängste, klagt über Symptome und plötzlich spüren es die anderen auch. Die Leiden sind real, der Auslöser jedoch ist die Psyche, nicht ein Gift.

Beispiele dafür finden sich in der Fachliteratur in rauen Mengen. Und doch befriedigt die Diagnose von der Macht der Psyche niemanden. Der Wunsch nach einem stofflichen Übeltäter wirkt zu mächtig. Das verhindert die Einsicht, dass soziale Ansteckung auch im großen Maßstab funktioniert und sich Hysterien in ganzen Gesellschaften ausbreiten können. Beispiel? Hier: Gestern kam ein Buch mit der Post. "Gut essen bei Fruktoseunverträglichkeit" lautet der Titel. "Immer mehr Kinder und Erwachsene entwickeln eine Fruktoseunverträglichkeit", heißt es darin gleich in der Einleitung. Sind Laktose und Gluten als Übeltäter durchgenudelt, kommt jetzt die Fruktosehysterie? Der Text berichtet von Blähungen, Durchfall und Alarmsignalen.

Einspruch! Es sind Bücher wie dieses, die als Alarmsignale gewertet werden sollten. Sie tragen Ängste hinaus in eine in Sachen Gesundheit ohnehin verunsicherte Gesellschaft, in der scheinbare Lebensmittelunverträglichkeiten grassieren. Dahinter steckt in den meisten Fällen wohl die destruktive Macht der Psyche, so wie neulich im Flug nach London.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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