Kommentar:Leben nach Zahlen

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Christian Gschwendtner findet den Aufwand vieler Promotionen unzeitgemäß. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Immer mehr Menschen zeichnen jede Millisekunde ihres Lebens auf: Gespräche, Kalorien und Fahrtwege. Sie nennen sich "Lifelogger" und folgen zum Teil unsinnigen Vorgaben. Nicht nur in der Wirtschaft kann das großen Schaden anrichten.

Von Christian Gschwendtner

Den Wenigsten dürfte der Name Nicholas Felton noch etwas sagen. Dabei hat es der New Yorker Designer vor ein paar Jahren zu einer kleinen Berühmtheit gebracht. Mit einem Experiment, dessen Sinnhaftigkeit sich auf den ersten Blick nicht so richtig erschließen wollte, das man aber aus heutiger Sicht als wegweisend bezeichnen muss. Der Mann hat einfach getan, was inzwischen viele machen, das ganzes Leben aufzeichnen und auswerten. Gespräche, Kalorienverbrauch, Fahrwege - praktisch alles.

In der Fachsprache heißen solche Menschen "Lifelogger". Sie vermessen ihr ganzes Leben, nur um die Daten anschließend für die Selbstoptimierung zu verwenden. Felton ist da noch einen Schritt weitergegangen, er hat seine Privatdaten hinterher im Internet veröffentlicht. Im jährlichen "Felton-Bericht" konnte jeder nachlesen, wie es um sein Performance steht. So etwas kannte man bisher nur von großen Unternehmen, die einmal im Jahr ihre Bilanz vorstellen.

Heute ist die große Vermessung längst Teil des Alltags geworden. So gut wie kein Beruf bleibt mehr davor verschont. Man muss sich nur mal im Wissenschaftsbetrieb umschauen. Wichtig ist, dass eine Arbeit viel zitiert wird, für den Inhalt interessieren sich nicht mehr ganz so viele Akademiker. In der Schule lernen die Schüler sowieso längst nach der "Wie-schaffe-ich-den-Test"-Methode. Was nicht abgefragt wird, darf vernachlässigt werden.

Eigentlich weiß man doch, dass die Planwirtschaft nicht funktioniert hat

Die Folgen sind desaströs: Menschen verschwenden immer mehr Zeit darauf, Vorgaben zu erfüllen. Mögen die auch noch so unsinnig sein. Es soll ja Leute geben, die abends noch eine Extrarunde um den Häuserblock laufen. Nur weil der Smart-Tracker 9700 Schritte anzeigt und nicht die geforderten 10 000 Schritte. Zustände sind das wie im real existierenden Kommunismus. Obwohl man eigentlich weiß, dass es mit der Planwirtschaft nicht ganz so gut funktioniert hat.

Was aber passiert, wenn Ärzte oder Polizisten ihr Handeln künftig vollends an Zahlen ausrichten? Gut möglich, dass die komplizierte OP dann warten muss. Könnte ja zu stark aufs Gesamtrating drücken. Und die Jagd nach Osama bin Laden hätte man schon frühzeitig einstellen müssen, zu oft wurde da das Jahresziel verfehlt. In jedem Fall hätten es Visionäre sehr viel schwerer, die nicht viel auf kurzfristige Zahlen geben, sondern lieber zum Mars fliegen wollen.

Immer mehr Menschen machen immer mehr Überstunden, nur um unsinnige Vorgaben zu erfüllen. Forscher sehen darin eine große Gefahr für künftigen Wohlstand. Es klingt absurd: aber zu viel Tracking schadet dem Wachstum. Der New Yorker Designer Felton hat sein Experiment längst wieder eingestellt. Er hat jetzt mehr Zeit für andere Sachen.

© SZ vom 02.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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