Manchmal benimmt sich John Ioannidis wie ein kleines Kind. Dabei ist der 50-jährige Stanford-Professor ein respektabler Arzt, der zu den meistzitierten Forschern seiner Zunft gehört. Die Rolle, die er gelegentlich annimmt, ist allerdings eine besondere: Ioannidis verhält sich dann wie jenes Kind aus Hans Christian Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider", das der versammelten Festgesellschaft zuruft: "Der hat ja gar nichts an!".
2005 hat Ioannidis mit einem Fachartikel Aufsehen erregt, der den für die Wissenschaft wenig schmeichelhaften Titel trug: "Why Most Published Research Findings Are False". Auf die Analyse der falschen publizierten Forschungsergebnisse folgt nun der nächste Schlag: "Why Most Clinical Research Is Not Useful" lautet sein Essay, der gerade im Fachblatt Plos Medicine erschienen ist (Bd. 13, S. e1002049, 2016). Nach der fehlenden Richtigkeit kritisiert Ioannidis nun den fehlenden Nutzen der meisten Forschungsbemühungen.
Klinische Forschung soll Patienten zugute kommen. Ärzte kennen allerdings das Phänomen, dass nur wenige Artikel aus der Fachliteratur für ihre alltägliche Arbeit hilfreich sind und sich auf die Probleme der Kranken anwenden lassen. Bisher sind weltweit etwa eine Million klinische Studien veröffentlicht worden. Nach Einschätzung von Experten sind 85 Prozent davon unnütz und reine Geldverschwendung - sie helfen allenfalls den Karrieren der beteiligten Forscher.
Ioannidis erinnert an Grundlagen: "Nützliche Forschung führt zu einem relevanten Erkenntniszuwachs", sagt der Arzt. "Im Idealfall sollten Studien immer einen Nutzen haben, egal was herauskommt." Entweder wird eine Behandlung oder Untersuchung anschließend verbessert - oder sie erweist sich als so fragwürdig, dass sie nicht mehr angewendet wird. In vielen Fällen beginnen Wissenschaftler jedoch neue Studien, ohne den bisherigen Wissensstand zu berücksichtigen. Untersuchungen werden doppelt und dreifach ausgeführt - und ahnungslose Patienten mit Eingriffen oder Medikamenten belästigt, deren Folgen längst bekannt sein könnten.
Ein weiterer häufig begangener Fehler, der zu Trugschlüssen verleitet, besteht darin, den falschen Vergleich zu wählen. Es ist ein leichtes, ein neues Medikament als überlegen darzustellen, wenn es mit obsoleten Behandlungsverfahren verglichen wird oder als Erfolgskriterien lediglich veränderte Blutwerte oder Röntgenbefunde herangezogen werden - aber nicht das Befinden der Patienten. Solche Ersatzparameter gaukeln Verbesserungen vor, wo keine sind. Sie erinnern an den Mediziner-Kalauer: Operation gelungen, Patient gestorben.
Auch das richtige Leben muss öfter berücksichtigt werden. Welche Aussagekraft hat schon eine klinische Studie an gesunden Studenten, wenn die Therapie später betagten Damen zugute kommen soll? Die Teilnehmer an Studien stellen immer eine Auswahl dar. Sie sollten der Gruppe, die später davon profitieren soll, aber möglichst nahe kommen. Gründliche und langfristige Untersuchungen wie die "Physicians' Health Study" und die "Nurses' Health Study" haben zwar seit mehr als 30 Jahren Hunderte neuer Ergebnisse gebracht. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich Ärzte und Pflegepersonal im Einkommen, Lebensstil und Gesundheitsverhalten von der übrigen Bevölkerung unterscheiden und sich die Erkenntnisse deshalb nur eingeschränkt übertragen lassen.
Untersucht wird, was Ansehen und Geld verspricht. Wichtige Fragen bleiben auf der Strecke
Die banale Erkenntnis, dass der Patient im Mittelpunkt stehen sollte, wird in der klinischen Forschung oft vernachlässigt. Ein um vier Wochen verlängertes progressionsfreies Intervall, bei dem der Tumor nicht wächst und die Tumormarker stumm bleiben, hat für Krebskranke keine Bedeutung, wenn sich dadurch weder die Lebensqualität noch die Lebensdauer verlängern. "Bei solcher Forschung geht es nur um den kommerziellen Nutzen oder die akademische Karriere", beklagt Ioannidis. Seit 2012 gibt es in den USA ein Institut (abgekürzt: PCORI), das die Bedürfnisse der Patienten in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellt. Bisher sind die Versuche der Wissenschaft überschaubar, in denen die Forschung jene Fragen angeht, die für Patienten höchste Priorität genießen.
Die klinische Forschung läuft weitgehend auf Autopilot. Es wird untersucht, was Aussicht auf schnelle Publikation, weitere Forschungsmittel und Ansehen verspricht. Das führt zu einer grotesken Schieflage und zu einer Geldverschwendung von 90 Prozent der Mittel für klinische Forschung, die problemlos eingespart werden könnten. Dass die Kritik von Ioannidis nicht übertrieben ist, zeigt eine Analyse der von sechs Ethikkommissionen in Deutschland, Kanada und der Schweiz zwischen 2000 und 2003 erlaubten und von 2008 und 2009 begonnenen chirurgischen Studien: 25 Prozent der bewilligten und gar 43 Prozent der chirurgischen Untersuchungen wurden abgebrochen - wegen erwiesener Nutzlosigkeit.
Es geht Ioannidis nicht darum, klinische Forscher zu beschuldigen. Er will Veränderungen anstoßen. Dazu müssten allerdings die engen Verbindungen zwischen Industrie und Aufsichtsbehörden gelöst und akademische Karrierewege wie auch die Rolle der Fachzeitschriften hinterfragt werden. Derzeit werden kleine Studien von kurzer Dauer, die schnell publiziert werden können, belohnt. Wichtige Fragen bleiben auf der Strecke. "Leider sind nicht nur die meisten Forschungsergebnisse falsch, sondern die meisten der richtigen Ergebnisse bringen auch keinen Nutzen", lautet Ioannidis Fazit. "Dabei können und sollten die Menschen von medizinischen Interventionen Vorteile haben. Es ist sinnlos, klinische Forschung zu betreiben, ohne den klinischen Nutzen sicherzustellen. Hier sind Reformen und Verbesserungen längst überfällig."