Kindesmisshandlungen:Die heikle Diagnose

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Für Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter ist es im Klinik- und Praxisalltag oft extrem schwer zu erkennen, ob ein Kind misshandelt wurde. Woran sollen sich die Helfer orientieren?

Werner Bartens

Der fünfjährige Junge ist verletzt und wird von den Eltern ins Krankenhaus gebracht. Er muss bleiben. Kaum ist er in der Klinik, läuft er auf die Mutter eines anderen Kindes zu, sagt Mama zu ihr, will sie umarmen.

Gestürzt? Oder doch misshandelt? Manchmal ist es schwierig, Verletzungsursachen zu erkennen. (Foto: Foto: istock)

Als die Frau sagt, dass sie nicht seine Mutter sei, läuft der Junge auf eine Krankenschwester zu und fragt: "Willst Du meine Mama sein?". Als ein anderer Besucher vorbeikommt, schmiegt er sich an ihn.

"Die normale Reaktion eines Kindes bei einer solchen Trennung bestünde darin, zu weinen und nach seiner Bindungsperson zu rufen", sagt Karl Heinz Brisch, Psychosomatiker und Bindungsforscher am Haunerschen Kinderspital der Universität München.

"Stattdessen will dieses Kind zu jedem auf den Arm und würde mit jedem mitgehen. Wir nennen das promiskuitives oder indifferentes Verhalten - das lenkt den Verdacht stark auf eine Bindungsstörung."

Im Fall des Fünfjährigen bestätigte sich, dass er immer wieder geschlagen worden war. Ein anderes typisches Verhaltensmuster bei Bindungsstörung ist eine ängstliche Hemmung gegenüber den Eltern. Man würde erwarten, dass ein Kind bei Gefahr auf die engsten Bezugspersonen zuginge, um Schutz und Sicherheit zu suchen - und nicht, dass es vor ihnen davonläuft.

"Kein Symptom ist spezifisch, aber eine Bindungsstörung ist typisch für Kinder, die früh und regelmäßig körperlich, sexuell oder emotional misshandelt und vernachlässigt werden", sagt Brisch.

Werden die Kinder älter, zeigen sie auch andere Symptome. "Wenn zu uns depressive oder suizidgefährdete Jugendliche kommen, werden wir hellhörig, denn das kann Folge einer Misshandlung sein", sagt Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.

Obwohl es verschiedene Anzeichen geben kann, ist es für Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter oft extrem schwer zu erkennen, ob ein Kind misshandelt wurde. Derzeit sorgt in München ein Gerichtsverfahren für Aufsehen, in dem verhandelt wird, ob Ärzte und Sozialarbeiter einer Familie zu Unrecht das Kind entzogen haben, weil sie vermuteten, dass es körperlich gepeinigt worden war.

Verharmlosende Sprache

Kritiker bezichtigen die Helfer, überreagiert zu haben. Ärzte sind sich einig darin, dass insgesamt zu wenig auf mögliche Misshandlungen geachtet wird.

"Es ist im Klinik- und Praxisalltag schwer zu erkennen, wann sich Verdachtsmomente auf eine Misshandlung so verdichten, dass der Kinderarzt tätig werden muss", sagt Florian Heinen, Leiter der Kinderneurologie im Haunerschen Kinderspital. "Zudem geht die Abklärung mit aufwändigen und schwierigen Gesprächen einher. Für alle Beteiligten ist ein solcher Verdacht eine extreme Belastung."

Doch woran sollen sich die professionellen Helfer orientieren? Ängste, Schlafstörungen, Albträume, unklare Beschwerden und auch wiederholtes Einnässen können zwar bei Kindern plötzlich auftreten, nachdem sie misshandelt wurden. "Diese Beschwerden gibt es aber auch bei vielen anderen Erkrankungen", sagt Psychosomatiker Brisch. "Keines dieser Symptome ist spezifisch."

Manchmal gibt das Verhalten der Eltern Hinweise. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom provozieren Eltern das Leiden ihres Kindes, um Aufmerksamkeit für sich zu finden. "Das ist sehr selten und tritt eher bei alleinerziehenden Müttern auf", sagt Franz Joseph Freisleder. "Es gab aber schon Mütter, die dem Kind das Trommelfell mit einer Stricknadel verletzten, um eine Mittelohrentzündung hervorzurufen oder die mit heißen Wickeln Fieber erzeugten."

Körperlich sind die Hinweise ebenfalls oft uneindeutig. "Nicht immer gibt es den Abdruck einer Hand nach einer heftigen Ohrfeige, der noch tagelang zu sehen ist", sagt Elisabeth Mützel vom Institut für Rechtsmedizin der Universität München. Typisch seien begrenzte Hautwunden, wenn Zigaretten auf dem Körper ausgedrückt wurden. Stumpfe Gewalt zeige sich durch eine blasse Stelle in der Mitte mit einer Rötung drumherum.

Blaue Flecken und andere Verletzungen können auch von einem Sturz beim Toben herrühren. Typischerweise verletzen sich Kinder beim Spielen an Unterschenkel, Knie und Handflächen - und im Gesicht an herausragenden Stellen wie Nase und Stirn.

"Verletzungen am Gesäß, am Rücken und an der Innenseite der Oberschenkel kommen beim Spielen hingegen seltener vor und können ein Hinweis auf Misshandlung sein", sagt Mützel. "Wichtig ist aber immer, dass andere Ursachen und Erklärungen ebenfalls erwogen werden." Manchmal gebe es eben auch Stürze und Unglücksfälle, die zu ungewöhnlichen Verletzungen führen, obwohl niemand gewalttätig wurde.

"Bestimmte Frakturen fast nur durch Misshandlung zu erklären"

Oft ist erst auf dem Röntgenbild zu sehen, welchen Qualen Kinder ausgesetzt waren. Mützel berichtet von Kleinkindern, deren Wirbelkörper brachen, weil sie zu fest aufgesetzt wurden. Werden Kinder an den Fußgelenken gepackt und geschüttelt, splittern Knochen oft an ihren Enden ab.

"Frakturen des Schulterblatts oder des Brustbeins konnten wir fast nur durch Misshandlung erklären", sagt Mützel. "Auch ein Rippenbruch nahe der Wirbelsäule bei einem Säugling kann eigentlich nur darauf zurückzuführen sein, dass das Kind zu stark geschüttelt oder gedrückt wurde."

"Für Kinderärzte und Therapeuten ist emotional kaum etwas so belastend wie der Verdacht auf Misshandlung", sagt Florian Heinen. "Die Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Aggression kann manchmal in die Irre führen und Eltern zu Unrecht belasten - umso wichtiger, dass sich ein Team unterstützt und emotional kontrolliert." Der neuen Kinderschutzgruppe am Haunerschen Kinderspital gehören Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Pflegende an.

Heinen kritisiert die verharmlosende Sprache mit der eine häufige Form der Misshandlung beschrieben wird: "Schütteltrauma klingt wie Anstupsen", sagt der Kinderarzt. "Dabei müssen wahnsinnige Kräfte einwirken, damit die Schutzreflexe der Halsmuskeln überwunden werden." Ärzte erkennen die Folgen solcher massiven Gewalt oft an Einblutungen in der Netzhaut, wenn sie den Augenhintergrund betrachten.

Wie oft Kinder in Deutschland körperlich misshandelt werden, lässt sich kaum sagen. Die neueste polizeiliche Kriminalstatistik von 2006 weist 3640 Opfer auf, Jungen werden etwas häufiger misshandelt als Mädchen. Bei den Tatverdächtigen waren 57 Prozent männlich, 43 Prozent weiblich.

"Alle Untersuchungen zeigen, dass dieses Problem unterschätzt, und Misshandlung oft zu spät entdeckt wird", sagt Heinen. Obwohl Experten eine hohe Dunkelziffer vermuten, will keiner eine Schätzung abgeben. "Das wäre nicht seriös", sagt Karl Heinz Brisch. "Leider wird es auch immer wieder Fälle geben, in denen die Eltern oder andere Bezugspersonen die Symptome plausibel erklären können - und trotzdem könnte eine Misshandlung nicht ausgeschlossen sein."

© SZ vom 15.02.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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