Joggen durch 40 Länder:So lang die Füße tragen

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Ihr Körper schrumpft und verdaut sich langsam selbst: Extremsportler reizen aus, wie weit ein Mensch laufen kann. Der 55-jährige Extremläufer Achim Heukemes joggte vom Nordkap bis nach Sizilien - und nahm dabei täglich 10.000 Kalorien zu sich.

Stephan Bernhard

Endlich hat Achim Heukemes den Pool verlassen. 1520-mal ist er durch das Becken gekrault - 25 Meter hin, Wende, 25 Meter zurück und wieder von vorne. Gesamtdistanz: 38 Kilometer, umgerechnet hätte er auch einmal durch den Ärmelkanal schwimmen können.

Extremsportler Achim Heukemes beim Durchqueren des australischen Kontinents. Am 15. Mai 2005 erreichte Heukemes nach 43 Tagen, 13 Stunden, 8 Minuten und 4568 Kilometern das Ziel Sydney. (Foto: Foto: dpa)

Jetzt sitzt Heukemes im Sattel seines Rennrads und hat den ersten Teil der 1800 Kilometer langen Radstrecke hinter sich. Etwa fünf Tage plant er für die Etappe ein. Zum Vergleich: Das Feld der Tour de France legt die doppelte Distanz in drei Wochen zurück.

Danach ist Heukemes immer noch nicht fertig. Dann wartet noch die Laufstrecke: 422 Kilometer - zehn Marathonläufe am Stück.

Achim Heukemes ist einer von 20 Teilnehmern des Decatriathlon im südfranzösischen Vidauban, der Weltmeisterschaft im Zehnfach-Ironman. Als der Startschuss vergangenen Sonntag fiel, ging der 55-jährige Ausdauerathlet aus Gräfenberg bei Nürnberg als ältester Teilnehmer ins Rennen.

Ob er die Tortur durchsteht, ist für ihn keine Frage: "Ins Ziel komme ich auf jeden Fall. Unsicher ist nur, ob ich es unter die ersten drei schaffe oder nicht. Mehr als zehn Tage sollte ich nicht benötigen."

Zehn Tage Dauerbelastung sind für Heukemes keine besondere Herausforderung. 2005 war er 43 Tage unterwegs und lief 4568 Kilometer quer durch Australien von Perth nach Sydney. 1200 Kilometer davon führten durch die Nullarbor Plain, eine Wüste, die wegen der extremen Temperaturen von mehr als 40 Grad auch Hölle von Australien genannt wird.

Zwei Stunden Schlaf pro Tag und 10.000 Kalorien

Noch länger dauerte bisher nur die Europadurchquerung vom Nordkap nach Sizilien. 55 Tage benötigte er im Jahr 2000 für die 5735 Kilometer lange Strecke.

Freizeitläufern, die schon einen Marathon als unerreichbares Ziel betrachten, drängen sich da Fragen auf: Bricht er nach diesen Dauerbelastungen auf der Ziellinie völlig ausgepumpt zusammen oder könnte er noch weiterlaufen?

Wann wäre die Grenze erreicht, an der ein Mensch keinen einzigen Schritt mehr tun kann? Oder könnten trainierte Menschen theoretisch ewig rennen?

Als Vorbereitung für die zehntägige Tortur in Südfrankreich hat Heukemes zwei Tage und zwei Nächte durchgehend in die Pedale getreten und ist dabei von Nürnberg bis nach Italien gekommen.

Für den zehnfachen Triathlon plant er aber zwei Stunden Schlaf pro Tag ein. "Sonst wird die Gefahr zu groß, dass ich im Sattel einschlafe und stürze", sagt der Extremläufer. Dazu kommen noch Pausen, um täglich 10.000 Kalorien und literweise Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Nach einer Woche verzehrt der Körper sich selbst

Aber egal, ob er sich 16 oder 20 Stunden am Tag schindet - Heukemes fordert von seinem Körper auf Dauer mehr, als der leisten kann. "Der Energieverbrauch bei so langen Sporteinheiten ist enorm", sagt der Schweizer Sportmediziner Beat Knechtle, der den Energieverbrauch bei extremen Lauf- und Radrennen gemessen hat.

"Der Athlet hat keine Chance, seine Energiespeicher mit Kohlenhydraten und Eiweiß so schnell aufzufüllen, wie sie entleert werden. Man müsste Berge von Fleisch, Nudeln und Energieriegeln verzehren, aber solche Mengen kann der Körper nicht mehr verdauen."

Heukemes weiß, wie wichtig die Nahrungsaufnahme ist: "Wenn keine Kohlen nachgelegt werden, ist der Ofen aus. Wie bei einem Motor, der keinen Sprit bekommt." Dennoch wird das Energiedefizit im Laufe des Wettkampfs immer größer werden.

Nach einer Woche fängt der Körper an, die Energiereserven anzugreifen - er verzehrt sich selbst. "Der Körper holt sich die Energie dort, wo er sie am schnellsten bekommt, und das sind die Muskeln", sagt Knechtle, der selbst extremen Ausdauersport betreibt und diesen Prozess am eigenen Leib erfahren hat. Am Ende eines zehntägigen Wettkampfs waren seine Arme und Beine spindeldürr, er hatte einen beträchtlichen Teil seiner Muskelmasse eingebüßt.

Aufgedunsen und ausgemergelt

"Man sägt an dem Ast, auf dem man sitzt", sagt auch der Sportwissenschaftler Rainer Schwab vom Zentrum für Leistungsdiagnostik der Sporthochschule Köln. "Je mehr die Muskelmasse abnimmt, desto anstrengender werden die Bewegungen und desto mehr Energie braucht der Körper. Ein Teufelskreis, der den Muskelabbau immer schneller werden lässt."

Wann sämtliche Muskeln verbraucht sind und der Mensch keinen Schritt mehr gehen kann, ist individuell verschieden und hängt von der Intensität der sportlichen Belastung ab. Überliefert ist, dass der Norweger Mensen Ernst, dem Marc Buhl in seinem Roman "Rashida" ein literarisches Denkmal gesetzt hat, 14 Tage lang so einen kräftezehrenden Lauf überstand.

Am 11. Juni 1832 startete der als Wunderläufer bekannte Mensen in Paris und erreichte das etwa 2500 Kilometer entfernte Moskau 14 Tage später. Er muss täglich knapp 180 Kilometer gelaufen sein. Heute erreichen Ultramarathonläufer ein Tempo von zehn bis zwölf Kilometer in der Stunde, mit dieser Geschwindigkeit war Mensen täglich mehr als 16 Stunden auf den Beinen - zu lange, um seinem Körper genug Energienachschub liefern zu können.

Er muss einen enormen Muskelabbau gehabt haben, und sein Spiegelbild sah in Moskau wohl stark verändert aus. "Gleichzeitig mit dem Verzehr der Muskulatur lagert sich Wasser unter der Haut ab", sagt Knechtle. "Hände, Füße und das Gesicht schwellen an - die Athleten sehen regelrecht aufgedunsen aus."

Allerdings hat Achim Heukemes während der 43 Tage, die er durch Australien gelaufen ist, kaum Muskeln verloren. Wie kann ein Mensch so lange laufen, ohne sich selbst zu verdauen? Auch andere Sportler haben solche Leistungen vollbracht.

So schafften 22 Athleten den Trans-Europa-Lauf 2003 und bewältigten 5036 Kilometer von Lissabon bis Moskau in 64 Tagen. Das Geheimnis ist, die tägliche Belastung gering zu halten. "Pro Tag 70 oder 80 Kilometer langsam zu laufen, sollte für viele Menschen monatelang möglich sein, mehr allerdings nicht", sagt Beat Knechtle. "Dabei entspricht der Energiebedarf etwa dem von acht Stunden körperlicher Arbeit, wie sie auch Landarbeiter leisten."

Ermüdungsbrüche und blutige Blasen

Es bleibt genug Zeit zu essen, zu schlafen und sich zu erholen. Man verbraucht nicht mehr Energie, als man zuführen kann und startet jeden Morgen wieder frisch erholt.

Tatsächlich waren die einzelnen Etappen des Trans-Europa-Laufs etwa 80 Kilometer lang und die Teilabschnitte des Trans-America Footrace, eines Extremrennens von der West- zur Ostküste der USA, sogar etwas kürzer.

Theoretisch könnten alle Läufer das Ziel erreichen, praktisch schafft es etwa die Hälfte. Ingo Schulze, Organisator des Trans-Europa-Laufs, kennt die Probleme der Athleten: "In seltenen Fällen kommt es zu Ermüdungsbrüchen in den Beinen. Blutige Blasen an den Füßen, gereizte Achillessehnen und entzündete Knochenhaut an den Schienbeinen sind aber ganz normal. "

Die Läufer schneiden dann ihre Sportschuhe auf und kühlen die Beine mit nassen Tüchern. Manche können die Qual erdulden, andere geben auf.

"Die ständigen Erschütterungen bei jedem Schritt sind eine enorme Belastung", sagt Rainer Schwab von der Sporthochschule Köln. "Langstreckenläufer werden einen oder zwei Zentimeter kleiner, weil Flüssigkeit aus ihren Bandscheiben gepresst wird und die Füße werden größer, sodass man eine andere Schuhgröße benötigt."

Um mehrere Monate zu laufen, muss ein Mensch seinen Körper durch immer längere Trainingseinheiten an die Belastung gewöhnen - es dauert in etwa ein Jahrzehnt, bis sich Bänder, Sehnen und Muskeln angepasst haben.

Achim Heukemes hat 23 Jahre Lauftraining in den Beinen, seit sein Leben 1983 eine neue Wendung nahm. Damals arbeitete er als Fernfahrer und wurde von einem Freund zu seinem ersten Rennen überredet: Zehn Kilometer, danach war er von dem Sport fasziniert.

Neun Monate später kam der erste Marathon, dann folgten Bergläufe und die 100 Kilometer Ultramarathonstrecke. Inzwischen ist er Profi, trainiert täglich sechs Stunden und lebt vom Laufen.

Sein Bewegungsapparat übersteht dank des langen Trainings die Strapazen, Schmerzen sind ihm trotzdem nicht fremd. "Der Schmerz ist vom ersten Tag bis zum Ziel dein Begleiter. Damit muss ich leben. Man darf den Schmerz nicht bekämpfen, diesen Kampf würde man verlieren. Man muss den Schmerz akzeptieren und sagen: Okay es tut weh, aber das ist egal. Das ist die mentale Arbeit, die dazugehört."

Schluss nach 19.000 Kilometern

Heukemes' längste Laufstrecke war die 5735 Kilometer lange Europadurchquerung. Manfred Michlits plant im nächsten Jahr fast die fünffache Strecke zu laufen: 25.000 Kilometer einmal rund um die Welt in 365 Tagen.

Start und Ziel ist Wien, die Heimatstadt des 37-Jährigen. "Vormittags einen Marathon, dann zwei Stunden Schlaf und am Nachmittag einen zweiten Marathon", erklärt Michlits seinen Plan. 40 Paar Schuhe sind für die Weltumrundung vorgesehen.

"Theoretisch ist das machbar", sagt Sportarzt Knechtle. "Es gibt keinen Grund, warum ein Mensch nicht jeden Tag acht Stunden Laufarbeit leisten kann." Praktisch kann allerdings viel passieren.

Man kann krank werden oder sich bei einem Sturz verletzen. So erging es dem Australier Gary Parson, der 1999 mit dem Ziel startete, 20.000 Kilometer durchzuhalten. Zuerst umrundete er Australien, dann drehte er Runden um Tasmanien. Irgendwann stolperte er, und sein Knöchel begann zu schmerzen.

Die Qualen wurden immer schlimmer, bis Parson nur noch humpelte und nach neun Monaten und etwas mehr als 19.000 Kilometern aufgab. Neben körperlichen Problemen denkt der Wiener Michlits aber auch über die Weltpolitik nach: "Mein Weg führt durch mehr als 40 Länder, eines davon ist Iran. Falls sich die Lage dort zuspitzt, muss ich einen Umweg machen."

© SZ vom 17. 6. 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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