300 Jahre Carl von Linné:Der Kanzleibeamte des Herrgotts

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Man nannte ihn auch den Mozart der Naturwissenschaft: Niemand hat die Natur je so umfassend und übersichtlich klassifiziert wie der Schwede Carl von Linné. Die Schlüssigkeit seines Ordnungssystems war für ihn ein Beweis für die Perfektion der Schöpfung Gottes.

Tobias Lehmkuhl

"Dieser Tage habe ich wieder Linné gelesen und bin über diesen außerordentlichen Mann erschrocken. Ich habe unendlich viel von ihm gelernt, nur nicht Botanik. Außer Shakespeare und Spinoza wüsste ich nicht, dass irgendein Abgeschiedener solche Wirkung auf mich getan."

Carl von Linné (Foto: Foto: oh)

Goethes Enthusiasmus könnte größer nicht sein, als er 1816 in einem Brief an Zelter dieses Bekenntnis ablegt. Die Naturkunde war für Goethe von ebensolcher Bedeutung wie Literatur und Philosophie; und Carl von Linné galt ihm als ihr größter Vertreter.

Sich selbst beschrieb der schwedische Forscher als eher klein denn hoch, "weder mager noch fett, mit ziemlich muskulösen Gliedmaßen und starken Adern schon von Kindheit an; der Kopf groß, mit gewölbtem Hinterhaupt, zur Lambdanaht hin quer eingedellt. Das Haar in der Kindheit blond, später dunkel, im Alter grau werdend.

Die Augen braun, lebhaft, äußerst scharf, von hervorragender Sehkraft. Die Stirn im Alter gefurcht. Eine Warze, vernarbt, auf der rechten Backe und eine andere auf dem rechten Nasenflügel. Schadhafte Zähne. Ein entschlossener Charakter, leicht zu Zorn, Freude, Trauer geneigt, schnell zu besänftigen; frohgemut in der Jugend und auch nicht stumpfsinnig im Alter; seinen Obliegenheiten voll und ganz hingegeben; leicht und rasch im Gang."

Geboren wurde Linné am 23. Mai 1707 in Småland. Sein Vater war Pastor, und das Interesse für Botanik hatte Carl wohl von ihm geerbt. Linnaeus, eine Ableitung des schwedischen Wortes für Linde, bestimmte der Vater zum Familiennamen. Denn eine Linde stand vor seinem Geburtshaus.

Carl war das älteste von fünf Geschwistern. Früh begann er sich für die Flora seiner Heimat zu begeistern. In einer seiner fünf autobiographischen Schriften, die er als Professor in Uppsala verfasste, erzählt er von seiner Kindheit: Nur Pflanzen hätten ihn interessiert, und seinen Vater hätte er unablässig nach ihren Namen gefragt. Ein Stück Selbststilisierung ist sicher dabei, denn erstmal war unklar, was aus Carl werden sollte. Mit seinen ersten Lehrern hatte er nach eigenem Bekunden wenig Glück gehabt. Doch schließlich erkannte einer sein spezielles Talent, und es fand sich auch ein Gönner, der seine Ausbildung finanzierte.

Erste Dozentur mit 23

Linné zog nach Uppsala, damals die einzige Universitätsstadt Schwedens. Mit kaum zwanzig Jahren brach sein Forscherdrang dann vollständig durch. In den Naturwissenschaften werden die bahnbrechenden Ideen in der Regel von unter 30-Jährigen entwickelt; auch Linné wusste früh, welche Erkenntnisse sein wissenschaftliches Leben bestimmen würden. Mit 23 Jahren bereits übernahm er seine erste Dozentur.

Zwei Jahre später, und bevor ihm sein großer Durchbruch in der Wissenschaftswelt gelang, unternahm er eine Forschungsreise nach Lappland. Man schrieb das Jahr 1732, eine Zeit, zu der eine solche Reise einer Expedition ins Innere Afrikas gleichkam. Kaum jemand hatte bis dahin Vorstöße in diese nördliche Region Skandinaviens gewagt. Zwar stand Lappland zum Großteil unter der Herrschaft der schwedischen Krone; allerdings war das kalte und unwegsame Gebiet nur spärlich besiedelt, und zwar von der Volksgruppe der Lappen. Einen Tag vor seinem 25. Geburtstag machte sich Carl von Linné auf den Weg.

Goethe hatte nicht das Glück, den Bericht dieser Reise zu kennen. Er wurde erst lange nach Linnés Tod veröffentlicht, zuerst auf Englisch, dann erst im Original. 1964 schließlich kam auch eine deutsche Fassung heraus, übersetzt vom damals in Malmö lebenden Dichter und Büchnerpreisträger H. C. Artmann. Die "Lappländische Reise" zeigt, was für ein erstaunlicher Mensch Linné tatsächlich war. Ein offener, neugieriger Geist, der in einem völlig ungekünstelten, natürlichen Stil zu schreiben verstand. Fast schwerelos hält er fest, was ihm begegnet.

Nicht nur Flora und Fauna interessieren Carl von Linné, immer mehr entwickelt er sich im Verlauf der Reise auch zu einem Ethnologen. Auf seine knappe und pointierte Art beschreibt er das Leben der Lappen.

Obwohl ihm das Vorurteil bekannt war, dass die Lappen so hießen, weil sie in Kleidern aus Lappen und Flicken herumlaufen, stachelte die in Lappland verbreitete Triefäugigkeit Linné seinerseits zu der nicht weniger hanebüchenen Vermutung an, der Name Lappen könne aus dem schwedischen Wort für dieses Leiden (lippi) abgeleitet sein.

Ungewöhnlicher Chauvinismus

Der Umstand, dass die Lappen in ihren Hütten keinen Abzug für den Rauch des Feuers anzubringen pflegen, sei Schuld an dieser Misere, die Linné mit der Zeit sehr verärgert: "Es wäre mein einziger Rat, sie allesamt an die Wand zu hängen und ihnen fünfzehn Schläge mit der Rute zu verabreichen, bis sie einen Schornstein in ihre Stuben bauen, fehlt ja nicht der Stecken, deren es bedürfte, der Obrigkeit Respekt zu verschaffen."

Solch chauvinistische Ausfälle sind gleichwohl höchst ungewöhnlich für Linné, dessen neugierige Art immer auch von Anteilnahme geprägt ist. Sein Blick bleibt, soweit es geht, unbefangen: "Die Finnenmädchen haben große Brüste, die Lappenmädchen kleine, et quales crudas servat puella marito (die sparen sie für ihren Zukünftigen auf)."

Systematiker, der er ist, lässt er keinen Bereich des Lebens aus: Krankheiten, Kleidung, Sitten, Ernährung, Werkzeuge, Handel, Glaube und Aberglaube: nichts scheint ihm einer kurzen Betrachtungen unwert. Immer wieder geraten ihm auch die Rentiere in den Blick, denn sie bestimmen das Leben der Lappen in vielerlei Hinsicht: "Ihr Penis wird dazu gebraucht, die Schlitten zu ziehen."

Die Systema Naturae gilt bis heute als Gesetzbuch der naturwissenschaftlichen Systematik. (Foto: Foto: oh)

Niemals habe er seine Tage gesünder zugebracht als während des kurzen Sommers in Lappland, schreibt der Forscher. Hunderte von Kilometern ist er zu Fuß und auf dem Pferd entlang der Küste unterwegs, erst durch Schweden, mit Abstechern ins norwegische Gebiet Lapplands, um schließlich auf der finnischen Seite des Bottnischen Meerbusens seine Beobachtungen fortzusetzen.

In einer Kirche trifft Linné ein Weib, das, so heißt es, jämmerlich von Fröschen geplagt wird, "die sie mit dem Wasser getrunken hatte, als sie im vergangenen Frühjahr noch Laich waren; sie spürte, dass es drei waren; sie hörte sie quaken, und andere, die neben ihr saßen; sie linderte ihre Qual etwas mit Branntwein, von Salz starben sie nicht."

Es sind nicht zuletzt diese absurden Episoden, die Linnés Reisebericht zu einer beglückenden Lektüre machen. Er enthält auch grausame Momente, etwa als Linné eine Landungsstelle erreicht und dort einen Galgen erblickt: "Zwei Finnen waren aufs Rad geflochten, ihre Körper waren ganz, der Kopf fehlte. Sie hatten Reisende, in der Absicht, ihnen das Geld zu nehmen, ermordet. Ein Lappländer gerädert und gevierteilt, weil er eine Blutsverwandte beschlafen."

Vier Monate dauerte Linnés Reise durch Lappland. Sein Bericht erinnert an die "Historien" Herodots, der mit ähnlich unbefangenem Blick von den Ländern und Menschen der antiken Welt berichtet, ihren Lebensumständen und Bräuchen.

Auch bei Herodot steht Erstaunliches gleich neben Erheiterndem und Erschreckendem. Linnés Bericht ist gleichwohl erheblich kürzer und im Ton von einer Leichtigkeit, wie es ihn in der zeitgenössischen schwedischen Literatur (geschweige denn der deutschen) bis dato noch nicht gab.

Immer mal wieder verfällt er ins Lateinische, nicht nur, wenn es um Pflanzennamen geht, auch krankhafte Erscheinungen pflegt Linné mit ihren lateinischen Namen zu bezeichnen: "Im Spital von Kronby gibt es verschiedene maniaci (Wahnsinnige); einige waren aus Eifersucht auf ihre Eheweiber verrückt geworden, ja, einer, der eine uralte Frau zu Hause hatte, dachte nichts anderes, als dass sie mit einem anderen umginge.

Vielleicht impotentia, vielleicht compressio phantastica aliquid efficeret (ist es Impotenz oder eingebildeter Druck, der so etwas bewirkt)?" Bei weniger schwerwiegenden Leiden genügen ihm jedoch einfache Worte und schlichte Erklärungen: "Nasenbluten kommt bei solchen vor, die klobige Füße haben."

Linnés Reisebericht ist auch deswegen eine aufschlussreiche Lektüre, weil er zeigt, dass selbst die größten Geister den törichtsten Irrtümern anheim fallen können. Niemand ist vor Fehlschlüssen gefeit. Auch nicht Linné, der die Biologie revolutionierte.

Durchbruch in Holland

Der Durchbruch gelang ihm, als er 1735 für drei Jahre nach Holland ging. Er promovierte und lernte den Bankier und Mäzen George Clifford kennen, der ihm seinen botanischen Garten zur Verfügung stellte. Bald nach seiner Ankunft in Holland veröffentlichte Linné sein "Systema Naturae". Es gilt bis heute als Gesetzbuch der naturwissenschaftlichen Systematik: Ein zweiteiliger Name bezeichnet zuerst die Gattung, dann die Art. Homo sapiens ist wohl das bekannteste Beispiel dieser binominalen Nomenklatur.

Man nannte ihn auch den Mozart der Naturwissenschaft, denn seine Systeme besäßen die Durchsichtigkeit der Mozart"schen Musik. Treffender noch ist der Titel "Kanzleibeamter des Herrgotts", den man ihm etwas spöttisch beilegte. Niemand sonst hat Gottes Schöpfung einer so umfassenden und doch übersichtlichen Klassifizierung unterworfen. Und Linné war tatsächlich tiefgläubig. Er ahnte zwar, dass die Tiere und Pflanzen einer Evolution unterworfen sind, wollte es aber nicht wahr haben. Stattdessen begriff er die Schlüssigkeit seines Ordnungssystems als Beweis für die Perfektion der Schöpfung Gottes.

Linné arbeitete viel und schnell. 1739 heiratete er, da war er schon eine Berühmtheit, und auch zum schwedischen Königshaus pflegte er bald engsten Kontakt. Die Königin begeisterte er sogar für das Botanisieren. Tatsächlich wurde er ein großer Lehrer, und stolz berichtete er von seinen vielen Schülern. Einige von ihnen schickte er hinaus in die Welt, damit sie neue Pflanzen sichteten und ihm schickten. Nicht wenige seiner Studenten starben auf diesen Expeditionen.

Selbst anfällig für Krankheiten, litt Linné unter Nierensteinen. Eine selbst entwickelte Kur mit Walderdbeeren (er stopfte so viele in sich hinein, wie er konnte) schuf schließlich Abhilfe. Höchste Orden, ja die Adelswürde verlieh man ihm. Auch in die französische Akademie der Wissenschaften wurde er aufgenommen. Bis zu seinem Tod 1778 soll Linné ein sehr geselliger Mensch gewesen sein; sich selbst empfand er als "klein, wild, hastig, lebhaft". Einmal war er richtig schadenfroh: als sein Kollege und Widersacher Georges-Louis Leclerc de Buffon den Botanischen Garten in Paris nach seinem System umorganisieren musste.

© SZ vom 19.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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