Intensivmedizin:Heilsamer Hunger

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Die gängige Methode, Kinder auf Intensivstationen künstlich zu ernähren, hilft in vielen Fällen nicht. Sie soll verhindern, dass die Patienten abbauen, aber möglicherweise verzögert sie sogar die Heilung.

Von Werner Bartens

Gut gemeint aber offenbar falsch ist das übliche Vorgehen, Kinder auf der Intensivstation möglichst schon am ersten Tag künstlich zu ernähren. Selbst essen können sie in ihrem Zustand nicht mehr, doch Nahrung könnte helfen - so die gängige Überlegung - damit die Kinder schnell wieder auf die Beine kommen. Im New England Journal of Medicine von diesem Mittwoch zeigen Ärzte aus Belgien, den Niederlanden und Kanada jedoch, dass es Kindern besser geht, wenn sie in der ersten Woche auf der Intensivstation keine Nahrung auf künstlichem Weg zugeführt bekommen.

Die Ärzte hatten mehr als 1400 Kinder untersucht, die Intensivpflege benötigten. Die Altersspanne erstreckte sich vom Neugeborenen bis zum 17-Jährigen. Die Hälfte der Kinder wurde nicht parenteral ernährt, wie die Nahrungszufuhr mittels Infusion in die Vene bezeichnet wird. Diese Versorgung setzte erst ein, wenn sie die Intensivstation nach einer Woche noch nicht verlassen konnten. Die andere Hälfte der Kinder wurde vom ersten Tag an künstlich ernährt. Beide Gruppen bekamen gleich viel Flüssigkeit. Die Ärzte verglichen, wer sich schneller erholte und kamen zu bemerkenswerten Ergebnissen: Kinder ohne künstliche Ernährung konnten die Intensivstation im Mittel nach 6,5 Tagen verlassen - die andere, ähnlich kranke Gruppe hingegen erst nach durchschnittlich 9,2 Tagen. Auch Organversagen und Infektionen waren mit 10,7 Prozent im Vergleich zu 18,5 Prozent weitaus seltener bei jenen Kindern, die nicht künstlich ernährt wurden.

"Nach der üblichen Vorstellung der Ärzte müssen Kinder auf Intensivstationen sofort künstlich ernährt werden, damit sie nicht abbauen, zu Kräften kommen und weiter wachsen", sagt Studienleiterin Greet Van den Berghe von der Uniklinik Leuven. "Dies ist wohl ein falsches Konzept, das sogar die Heilung verzögert. Fasten ist offenbar der beste Anreiz für den Körper, geschädigte Zellstrukturen zu reparieren und das Immunsystem zu aktivieren."

Van den Berghe und ihr Team hatten bereits bei schwer kranken Erwachsenen gezeigt, dass frühe Nahrungszufuhr über die Vene nicht das ist, was Patienten am besten hilft. "Bei Kindern aller Altersstufen und mit verschiedenen Erkrankungen kann der Körper die Krankheit besser bekämpfen und sich selbst heilen, wenn man ihn nicht füttert", sagt die Intensivmedizinerin. Die Ergebnisse seien geeignet, die gegenwärtige Praxis zu überdenken und die Betreuung auf Intensivstationen weltweit zu verändern.

© SZ vom 16.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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