Hirnforschung:Willensfreiheit im Zeitalter der Elektrostimulation

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Das naturalistische Missverständnis: In seinem neuen Buch erklärt der Philosoph Michael Pauen, warum die Neurowissenschaften unser Menschenbild nicht bedrohen.

Michael Hagner

Im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Naturforscher, die es für unmöglich hielten, dass das naturalistische Forschungsprogramm der Hirnforschung eines Tages eine vollständige Erklärung der zentralen geistigen Eigenschaften des Menschen bieten würde.

(Foto: Foto: AP)

Dafür konnten sie wissenschaftliche Argumente ins Feld führen, denn die großen Bemühungen einiger ambitionierter Hirnforscher, den Menschen auf sein Gehirn zu reduzieren, scheiterten immer wieder an der Komplexität des Gegenstandes.

Darüber hinaus hatten sie aber auch moralische, zum Teil religiös motivierte Bedenken: Die Leugnung einer vom Gehirn unabhängigen Seele führe zur Degradierung des Menschen, die sittliche Ordnung der zivilisierten Gesellschaft sei durch Materialismus und Naturalismus in Frage gestellt. Der psychophysische Dualismus vertrug sich mit einem Menschenbild, das auf Bewusstsein, Selbstbestimmung und Willensfreiheit aufbaute.

Heute dürfte es nur noch wenige Dualisten geben, aber an dem Konflikt zwischen Naturalismus und Menschenbild hat sich, wie die jüngsten Diskussionen um die Willensfreiheit zeigen, im Prinzip nicht viel geändert.

In seinem neuen, sehr lesenswerten Buch argumentiert der Magdeburger Philosoph Michael Pauen, dass dieser nun schon über 200 Jahre währende Konflikt auf einem naturalistischen Missverständnis beruhe.

Ein von Autonomie und Willensfreiheit geprägtes Menschenbild ist sehr wohl mit einer neurowissenschaftlichen Erklärung der Grundmechanismen des Geisteslebens vereinbar.

Wie das? Für seine kompatibilistische These führt Pauen zunächst einmal Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte an. Überzogene materialistische Theorien wie die von La Mettrie, Franz Joseph Gall oder Carl Vogt sind auf der ganzen Linie gescheitert, aber das hat die Hirnforscher keineswegs entmutigt.

Von den Neurowissenschaften nichts zu befürchten

Sie haben einfach weitergemacht, und der Erkenntniszuwachs hat ihnen Recht gegeben. Es scheint keine prinzipiellen Grenzen des naturalistischen Forschungsprogramms zu geben, und die Erklärungen unserer geistigen Fähigkeiten sind immer differenzierter geworden.

Umgekehrt haben sich die Vertreter eines traditionellen Menschenbildes durch die Neurowissenschaften bedroht gefühlt, aber im Grunde haben auch sie stets weitergemacht, und auch ihnen hat der Erfolg recht gegeben.

In einer eleganten, nahezu darwinistischen Wendung argumentiert Pauen, dass sich Kategorien wie Verantwortung, Selbstbestimmung und Willensfreiheit immer wieder glänzend im Alltagsleben bewährt haben, denn ansonsten wären sie inzwischen längst ausgemustert worden.

Unser Menschenbild hat also von den Neurowissenschaften nichts zu befürchten, weil diese es gar nicht auf die uns so teuren Kategorien absehen können, und wenn sie es doch einmal versuchten, sind sie mit ihren Ansprüchen gescheitert.

Person oder Pille

Aus seinen historischen Reflektionen zieht Pauen den Schluss, dass man mit grundsätzlichen Behauptungen über die neurowissenschaftliche Erklärbarkeit oder Nicht-Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften zurückhaltend sein sollte. Die Tatsache, dass man bislang nicht erklären kann, warum sich Schmerzen so anfühlen, wie sie sich anfühlen, heißt nicht, dass das nicht eines Tages möglich ist.

Das liefert aber auch keine Gewissheit. Unbestreitbar bietet die Evolutionslehre zumindest aufgeklärten Geistern eine differenziertere Erklärung der Menschheitsentstehung als der Mythos vom göttlichen Schöpfungsakt.

Daraus folgt jedoch nicht, dass die Soziobiologie etwa erklären könnte, warum die einen lieber Briefmarken und die anderen lieber Bücher sammeln, während noch andere das Sammeln für eine reichlich abwegige Beschäftigung halten.

In ähnlicher Weise liefert uns die Evolution keine hinreichende Begründung ethischer Normen. Dass wir Vergewaltigung, Mord aus Habgier oder ungehemmten Manchester-Kapitalismus ablehnen, lässt sich kaum auf die Evolution zurückführen.

Konsequenterweise erteilt Pauen der evolutionären Ethik eine schroffe Absage. Auch hier gibt es keinen Konflikt zwischen Naturalismus und Menschenbild, sofern sich die Evolutionstheorie darauf beschränkt, Konventionen wie das Inzesttabu oder den Altruismus zu erklären, ohne daraus normative Schlussfolgerungen zu ziehen.

Analog dazu glaubt Pauen, dass in der entstehenden sozialen Neurowissenschaft, die die Interaktion von Gehirn und Umweltfaktoren untersucht, wichtige Erkenntnisse über unsere geistigen Fähigkeiten und ihre natürlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen erlangt werden können.

Man kann dieser These Pauens vieles abgewinnen und doch einen historischen Einwand erheben. Die Hirnforschung des 20. Jahrhunderts hat ein naturalistisch reduziertes Menschenbild sehr wohl in die Tat umgesetzt - mit verheerenden Resultaten.

Der zerebrale Determinismus, wie er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa an der Münchener Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie und am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung vertreten wurde, hat in der Zeit des Nationalsozialismus viele unschuldige kranke Menschen das Leben gekostet, unter Beteiligung der zum Teil namhaften Forscher.

Und jenseits der einzigartigen Barbarei im nationalsozialistischen Deutschland zeigt ein Blick in die USA, dass die nach 1945 für einige Jahre beliebte Psychochirurgie, die ebenfalls auf einem zerebral determinierten Menschenbild basierte, in erster Linie erbarmungswürdige Krüppel mit irreversiblen Persönlichkeitsveränderungen produziert hat.

Mehr als Selbstbewusstsein plus Willensfreiheit

Solche Ereignisse machen einen Konflikt zwischen Menschenbild und Naturalismus nicht unausweichlich, aber sie verdeutlichen, dass unser Menschenbild mehr Komponenten enthält als Selbstbewusstsein und Willensfreiheit.

Pauen ist sich seiner Selektivität bewusst, doch er übergeht die pikante Konsequenz, dass im Namen eines naturwissenschaftlichen Zugriffs die Werte von Würde und Solidarität mit Füßen getreten worden sind.

Es wäre gewiss falsch, daraus einen Generalverdacht abzuleiten, wohl aber ist auch heute eine historisch reflektierte Wachsamkeit geboten. Den Härtetest für die Kompatibilität von Menschenbild und Naturalismus sieht Pauen zu Recht in den neuesten pharmakologischen und technologischen Entwicklungen der Neurowissenschaften.

Eine mögliche Bedrohung unseres Selbstverständnisses geht vom sogenannten Neuroenhancement aus, also von leistungssteigernden Psychopharmaka und von Neuroimplantaten. Damit würden sich gesunde Menschen freiwillig zum Objekt der Manipulation machen.

Das schwerwiegendste Problem liegt für Pauen darin, dass ein solcher Eingriff genau diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten betrifft, die eine Person zu einer Person machen.

Wenn aber beispielsweise die Entscheidung zwischen zwei Handlungen nicht mehr auf die Person selbst zurückzuführen ist, sondern auf Pharmaka oder Elektrostimulation, kann von Selbstbestimmung und Willensfreiheit keine Rede mehr sein.

Gewinn oder Respekt

Der Naturalismus als Technologie und Praxis ist also keineswegs ohne Konsequenzen für unser Alltagsleben. Pauen versucht mit dem Problem fertig zu werden, indem er die neuesten Entwicklungen der Neurotechnologie von denjenigen Forschungen loslöst, die die Kenntnis unserer selbst erweitern und differenzieren, unser Menschenbild aber nicht erschüttern.

Das ist kein geringer Preis, denn eine derart klare Trennung zwischen (unbedenklicher) Grundlagenforschung und (potentiell bedrohlicher) angewandter Forschung liegt in der Wissenschaftspraxis so nicht mehr vor.

Ob sich der von der neurowissenschaftlichen Erkenntnis der geistigen Fähigkeiten zu erwartende Gewinn gegen jene Risiken durchsetzt und sogar zu einer Erhöhung des Respekts gegenüber dem Menschen als Träger dieser Fähigkeiten führt, dürfte zu den wichtigsten Fragen gehören, die in nächster Zeit auf uns zukommen werden.

© SZ vom 30.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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