Häusliche Gewalt:Schlachtfeld Familie

Lesezeit: 4 min

Zu Hause ist der gefährlichste Ort - wie Nachbarn und Hausärzte erkennen können, ob ein Kind misshandelt wird.

Nicola Siegmund-Schultze

Wenn Sie Gewalterfahrungen suchen, gleich ob als Opfer oder als Täter, gründen Sie am besten eine Familie." Das Fazit, das Kai Bussmann, Professor für Strafrecht an der Universität Halle-Wittenberg, aus seinem Berufsleben zieht, ist zweifelsohne zynisch.

Doch Bussmann versichert: "Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie." Insgesamt sei Gewaltkriminalität in Deutschland rückläufig. Aber aus dem öffentlichen Raum sei sie erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich. Vom "Schlachtfeld Familie" sprechen Gewaltforscher in den USA sogar.

Stumme Opfer

Die Brutalität sei in erstaunlich normalen Wohnstuben zu Hause, sagt Bussmann. Gerade Kinder sind ihre stummen Opfer. Kinder werden geschlagen, getreten oder gestoßen, ihre Arme und Beine werden verrenkt, gezerrt oder gebrochen. Kinder werden gegen Wände oder auf den Boden geworfen, geschüttelt, gebissen oder an den Haaren gezerrt. "Stumpfe Gewalt" nennen Rechtsmediziner diese häufigsten Formen der Kindesmisshandlung. Auch Übergießen mit eiskaltem oder kochendem Wasser gehören dazu, Verbrennungen mit Zigaretten, stundenlanges Stehenlassen, Einsperren oder Fesseln.

Bussmann macht regelmäßig Untersuchungen im Auftrag der Bundesregierung zum Thema häusliche Gewalt. Wie aktuelle repräsentative Umfragen seiner Arbeitsgruppe unter mehreren tausend Eltern und Kindern ergeben haben, ist in Deutschland fast jeder fünfte Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren erheblich gepeinigt worden, zum Beispiel durch Stockschläge oder Schläge mit anderen Gegenständen. Meist hatten sich die Eltern an den Kindern vergriffen. Und das nicht nur einmal.

"Kindesmisshandlung ist kein isoliertes Ereignis", sagt Alfred Du Chesne, Rechtsmediziner an der Universität Münster. Sie entwickele sich vielmehr als Prozess, in dessen Verlauf die Episoden der Gewalt immer häufiger aufeinander folgten. "In allen Fällen von Kindesmisshandlung, die an unserem Institut begutachtet wurden, gab es Vorzeichen", sagt Du Chesne. "Meist sogar mehrere."

Es würde sich also durchaus das Schlimmste verhindern lassen, wenn Ärzte, Lehrer und Nachbarn die Augen offen hielten. Du Chesne berichtet von einem drei Monate alten Säugling, der mit einem Bluterguss unter der Schädeldecke in die Münsteraner Universitätsklinik kam. Der Vater hatte das schreiende Kind geschüttelt.

Die Folge waren spastische Lähmungen und eine Gehirnschädigung. "Der Vater hat sofort alles zugegeben und war sehr kooperativ", erinnert sich Du Chesne. Die ganze Familie sei ausgesprochen sympathisch gewesen.

Doch Vater und Mutter waren vor zwei Monaten schon einmal mit ihrem Säugling im Krankenhaus gewesen: Damals war bei dem kleinen Jungen ein Oberschenkel gebrochen. "Eine Kante vom Knochen war abgesplittert", sagt Du Chesne. "Das deutet klar auf eine Misshandlung hin."

Auch die behandelnden Ärzte haben das erkannt, und der Vater gab zu, dem schreienden Baby im Bett das Knie nach hinten durchgedrückt zu haben. Der Mann war sichtlich betroffen und versprach, so etwas komme nie wieder vor.

Daher verzichteten die Ärzte auf eine Anzeige: Eine Fehlentscheidung, die dazu führte, dass der Säugling kurze Zeit später einen Schaden fürs Leben erlitt. Fast hätte sein Vater ihn zu Tode geschüttelt.

Typische Knochenbrüche

Den Ärzten hätte klar sein müssen, dass Kindesmisshandlungen oft keine vorsätzliche Körperverletzung sind, sondern Ausdruck einer inneren Spannung der Eltern, die sie nicht aushalten, sagt Du Chesne. "In einer ähnlichen Situation passiert ihnen das Gleiche wieder, ohne dass sie sich kontrollieren können." Da helfe es nur, das Kind aus dem Gefahrenkreis herauszunehmen, und sei es nur für kurze Zeit.

Für Kindesmisshandlungen gibt es ein recht untrügliches Kennzeichen: Weil die Misshandlungen Wiederholungsdelikte sind, findet sich bei den Opfern meist ein Sammelsurium von älteren und neueren Verletzungszeichen. Auf ihrer Haut sind neben frischen blau-roten Blutergüssen meist auch ältere grünlich, gelblich oder bräunlich gefärbte Hämatome zu sehen; mitunter gibt es darüber hinaus noch Narben oder verheilte Knochenbrüche.

Solche Brüche hätten andere Formen als Unfallverletzungen, sagt Du Chesne. Bei jedem zweiten Kind, das körperlich misshandelt wird, sind irgendwann einmal Knochen gebrochen. Denn schon Festhalten und Schütteln kann bei kleineren Kindern zu Knochenbrüchen führen. Und umgekehrt sind 80Prozent aller Knochenbrüche von Kindern unter 18Monaten Folgen von Gewalt.

Auch die Verteilung gibt Hinweise darauf, ob die Verletzungen eher auf einen Sturz zurückzuführen sind oder auf Gewalt: Ziel von Attacken werden häufig Rücken und Gesäß, ebenso die seitlichen Bereiche von Augen und Wangen. Auch wenn beide Seiten des Gesichts verletzt sind, deutet dies eher auf Gewalt hin als auf einen Sturz.

"Ein Kind, das stürzt, verletzt sich häufiger Stirn, Nase oder Kinn, also Regionen unterhalb der Hutkrempenlinie", erläutert Du Chesne. Blutergüsse oder Schwellungen in der Scheitelgegend würden dagegen selten durch Unfälle entstehen.

"Man kann es einer äußeren Verletzung natürlich nur selten mit hundertprozentiger Sicherheit ansehen, wie sie entstanden ist", schränkt Hansjürgen Bratzke, Rechtsmediziner an der Universität Frankfurt ein. "Wenn es aber eine Erklärung der Eltern oder des Kindes gibt, lässt sich schon abschätzen, ob Beschreibung und Befund zusammenpassen."

Manche Verletzungen sind allerdings mit moderner Technik als klare Gewaltfolgen zu enttarnen. So drücken sich häufig Finger oder Gegenstände auf der Haut der Kinder ab. Striemen an Oberarm, Rücken oder Gesäß deuten auf Schläge hin, zum Beispiel mit einem Gürtel. Mit Hilfe digitaler Bildverarbeitung lassen sich solche Abdrücke häufig passgenau den Tatwerkzeugen zuordnen.

Das gilt auch für Bisse, die die Ärzte bei drei Prozent der misshandelten Kinder finden. Wenn angeblich ein Geschwisterkind zugebissen hat, zeigen übereinanderprojizierte Fotos, ob die Zahnabdrücke auf der Haut tatsächlich mit dem Gebiss des Geschwisters in Deckung zu bringen sind.

Ärzte sollten vor allem dann an die Möglichkeit einer Misshandlung denken, wenn sie schwere Verletzungen zufällig entdecken, sagt Hedie von Essen, Unfallchirurgin an der Universitätsklinik Bonn. Normalerweise würden Eltern bei einer Verletzung schließlich sofort mit ihren Kindern in die Klinik fahren. Bei einem Verdacht auf Misshandlung sollte dann grundsätzlich der ganze Körper des Kindes untersucht werden, nicht nur die aktuell verletzten Bereiche, mahnt von Essen. Röntgen gehöre dazu.

Schweigen nährt Gewalt

"Die wichtigste Botschaft an Hausärzte und Pädiater heißt: dran denken", sagt Du Chesne. Die Ärzte sollten bei einem Verdacht versuchen, behutsam bei den Eltern nachzufragen. Sie könnten sich aber ebenso wie medizinische Laien an eine Beratungsstelle wenden, auch anonym, um über ihre Vermutung und den Umgang damit zu sprechen.

Viele Kinderkliniken bieten eine solche Beratung an, aber auch Kinderschutzzentren, rechtsmediznische Institute, soziale Dienste oder der Deutsche Kinderschutzbund.

"Schweigen ist der Nährboden der Gewalt", sagt auch der Strafrechtler Kai Bussmann. "Wir dürfen sicher nicht hinter jedem blauen Fleck oder hinter jedem Knochenbruch eine Kindesmisshandlung vermuten. Aber die Schwelle, einen konkreten Verdacht mit Sachkundigen zu besprechen, sollte sinken." Viele Menschen fürchten, dadurch Familien zu zerstören.

Diese Befürchtung sei aber bei vernünftigem Umgang mit einem Verdacht völlig unbegründet, sagt Jochen Taupitz, Zivil- und Medizinrechtler an der Universität Mannheim. Ein erster Schritt könne die genaue Untersuchung des Kindes sein. Wenn die Eltern dem nicht zustimmen, kann ihnen ein Familiengericht ausschließlich zu diesem Zweck die Fürsorge entziehen.

© SZ vom 9.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: