Getuschel stört beim Denken:Das dröhnende Klassenzimmer

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Viele Schulräume behindern Lernen und Kommunikation, weil bei der Planung die Akustik vernachlässigt wird.

Elke Brüser

Jeder kennt das: Man will in Ruhe lesen - aber es gelingt nicht. Jeder Versuch, sich auf den Inhalt zu konzentrieren, scheitert an dem Zeitgenossen in der Nähe, der permanent am Handy hängt.

Vollkommene Stille gibt es im Unterricht nie. Tuscheln, raschelndes Papier und knarrende Stühle verursachen einen erhöhten Geräuschpegel. (Foto: Foto: ddp)

Er spricht nicht extrem laut, er spricht nicht besonders emotionsgeladen, und doch stört sein Gerede.

"Jede Art Sprechen stört"

Nicht nur Erwachsene lassen sich durch andere Gespräche leicht ablenken, sondern auch Kinder. Ob das Gebrabbel in der Muttersprache oder einer Fremdsprache erklingt, macht keinen Unterschied, hat die Psychologin Maria Klatte von der Universität Oldenburg herausgefunden.

"Jede Art Sprechen stört bei Aufgaben, die das Kurzzeitgedächtnis beanspruchen", sagt die Forscherin. Gleiches gilt für flotte Musik. Klatte empfiehlt daher, bei Hausaufgaben, die mehr Konzentration erfordern, wenigstens auf getragene Instrumentalmusik umzuschalten.

Die lenke weniger ab. Der Störeffekt dadurch sei ähnlich gering wie kontinuierlicher Schall, der von einer fernen Autobahn ins Zimmer dringt.

Wenn Kinder Neues aufnehmen oder anwenden sollen, reagieren sie besonders empfindlich auf Schallreize. Warum das so ist und wovon der Störeffekt abhängt, untersucht Klatte sowohl in realen Klassenräumen als auch im Labor.

Außergewöhnliche Möglichkeiten bietet der Kommunikationsakustik-Simulator (KAS), den das Kompetenzzentrum Hörtech im Oldenburger Haus des Hörens betreibt. Die Akustik eines Spezialraums kann durch eine elektro-akustische Anlage nahezu beliebig verändert werden.

Es ist bekannt, dass Außenlärm, der durch Fenster und Gemäuer in die Schule dringt, Lernende weniger irritiert als Geräusche, die in der Klasse entstehen wie das Getuschel der Nachbarn, Gruppenarbeit am Nebentisch oder rückende Stühle.

"All dies ist bei selbstbestimmtem Lernen und Freiarbeit verstärkt", sagt Klatte. "Daher müssen Klassenräume so beschaffen sein, dass sie Kommunikation und fortschrittliche Unterrichtsformen fördern - statt sie zu behindern."

Die Optik der Klassenzimmer war wichtiger

Architekten hätten jahrzehntelang nur Wert auf die Optik eines Raumes gelegt, nicht auf seine Akustik, bemängelt der Physiker Christian Nocke, der mit Klatte zusammen arbeitet.

Ausnahmen seien Konzertsäle und große Hörsäle. Dabei müssten Schüler auch heute noch vor allem eins: Zuhören.

Dass Lärm dabei stört, ist keine Frage. Als Wissenschaftler vom Institut für Interdisziplinäre Schulforschung der Universität Bremen kürzlich in mehr als 400 Unterrichtsstunden die Lautstärke gemessen haben, lag der Schalldruckpegel im Mittel bei 65 Dezibel.

In einigen Stunden wurden aber auch Durchschnittswerte von 85 Dezibel erreicht. Zum Vergleich: Gespräche unter Erwachsenen bringen es auf 50 bis 55 Dezibel.

Doch offenbar ist Lautstärke - gemessen als Schalldruckpegel in der Klasse - nicht das Maß aller Dinge. Wichtiger ist die Nachhallzeit. In hallenden Räumen klingen Sprache und andere Geräusche länger nach.

Es wird insgesamt lauter, da der Schall nicht so rasch geschluckt wird. Außerdem hebt man die Stimme, um den Grundlärm zu übertönen. Dabei wird Sprache schlechter verständlich.

"Bei zu langer Nachhallzeit werden beim Sprechen die nachfolgenden Silben durch vorhergehende, die noch weiter nachklingen, verdeckt", sagt Klatte.

Das macht besonders Grundschülern zu schaffen, denn ihre Hörkompetenz ist noch in der Entwicklung, Verarbeitungsschritte sind nicht so automatisiert.

Schon bei leicht verlängerter Nachhallzeit können Schulanfänger einzelne Laute schlechter identifizieren, während sie in Tests mit unverhallten Lauten ebenso gut abschneiden wie ältere Schüler.

Was Kindern das verstehende Hören erschwert, lässt sich am ehesten nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass derselbe Laut sehr unterschiedlich klingen kann. Bei Männern etwa liegen die charakteristischen Frequenzen von Vokalen tiefer als bei Frauen, Dialekte variieren den Klang und meist schwingen Emotionen mit.

Ein Kind muss lernen, das Phonem in seinen verschiedenen Ausprägungsformen zu identifizieren. Beim Verstehen hilft neben der Satzstruktur natürlich auch der inhaltliche Kontext. Aber alles zusammenzubringen, ist harte Arbeit.

Schlechte Leistungen bei Hintergrundlärm

Entscheidend für das Verständnis ist der Arbeitsspeicher, in dem gerade Gehörtes im Kurzzeitgedächtnis festgehalten und mit Bekanntem aus dem Langzeitgedächtnis verglichen wird. Doch während die Aufnahmekapazität vom Langzeitgedächtnis theoretisch unbegrenzt ist, ist das Kurzzeitgedächtnis limitiert.

Bei Kindern ist es leicht überfordert, wenn sie einen langen Satz von Anfang bis Ende zwischenspeichern müssen, um ihn zu verstehen. Ihre Kapazität ist geringer als die von Erwachsenen.

Dass in den Zwischenspeicher alle möglichen Wahrnehmungen gelangen, erschwert bei schlechter Raumakustik die Arbeit von Schülern. Vor allem Gerede, das bei Gruppenarbeit unumgänglich ist, stört.

"Wenn andere sprechen, wird das Kurzzeitgedächtnis beschäftigt, da Sprache für uns immer potenziell bedeutungsvoll ist", sagt Klatte. Dies erklärt auch, warum ein Handy-Gespräch die Lektüre vergällen kann.

"Bei Erwachsenen spielt das Kurzzeitgedächtnis allerdings nur beim Lesen sehr anspruchsvoller Texte eine Rolle", sagt die Wissenschaftlerin.

Tests mit Grundschulkindern ergaben, wie leicht sie an ihre Grenzen gelangen: Wenn sie sich an Wortgebilde oder Ziffern, die sie gerade über Kopfhörer gehört hatten, erinnern sollten, sackten ihre Leistungen deutlich ab, sofern die Testwörter mit leisem Sprachgewirr unterlegt oder der Nachhall verlängert war. Rauschähnlicher Schall mit gleichem Pegel störte die Probanden nicht.

Die Effekte des Nachhalls untersucht Klatte mit Psychologen der Universität Eichstätt und Akustikern des Fraunhofer Instituts für Bauphysik in Stuttgart auch an acht Grundschulen im Umkreis von Stuttgart. Nach ersten Auswertungen ist klar, dass bei Erst- und Zweitklässlern das so genannte Hörverstehen in Klassenräumen mit geringem Nachhall viel besser ist.

Wenn die Kinder ein Wort hörten, zum Beispiel See, konnten sie das zugehörige Bild aus einer Auswahl von Bildern mit ähnlich klingenden Bezeichnungen - etwa Fee und Reh - öfter richtig ankreuzen. In einem Raum mit optimierter Akustik konnten Schüler Laute um zehn Prozent besser unterscheiden als bei den üblichen Hintergrundgeräuschen.

Fremdsprachler und Hörgeschädigte haben Nachteile

Was das Satzverstehen angeht, ergaben sich zwischen Klassen mit mehr und weniger Hall zwar keine frappierenden Unterschiede. Aber die Wissenschaftler vermuten, dass die Tests einfach zu kurz waren. Die erhöhte Anstrengung beim Zuhören würde sich erst bei längerer Dauer bemerkbar machen.

Besonders nachteilig ist eine schlechte Raumakustik für Schulanfänger mit nicht-deutscher Muttersprache, bei Hörstörungen, Sprachentwicklungsverzögerungen oder Lernbehinderungen. Lärm beeinträchtig aber nicht nur die kognitiven Leistungen, sondern auch das Schulklima.

Die Stuttgarter Untersuchung offenbarte, dass Kinder aus hallenden Klassenräumen ihre Mitschüler öfter als sehr laut empfinden, häufiger ermahnt werden, leiser zu sein und ihre Umgebung in der "Stillarbeitszeit" seltener als wirklich still bewerten.

Lehrer sind häufiger krank

Die Eltern monierten häufiger, dass ihr Kind unter dem Lärm von Mitschülern leide, wenn die Nachhallzeit des Klassenraumes lang war. Die Folgen miserabler Raumakustik sind bekannt: Lehrer, die die Stimme heben und oft etwas wiederholen müssen, sind häufiger krank.

Kinder werden wegen lärmendem Verhalten mehr getadelt. "Darunter leiden die sozialen Beziehungen und die sind eine wesentliche Determinante der Schulleistung", sagt Klatte.

Da man Lärm und Nachhall gut reduzieren kann, fordern Experten seit langem, in Schulen mehr für die Raumakustik zu tun. Am besten wirken schallabsorbierende Deckenverkleidungen, so genannte Akustikdecken, gegen Nachhall.

Spezielle Fragen lassen sich im Oldenburger Simulator bearbeiten: "Dort variieren wir raumakustische Parameter und überprüfen die Auswirkungen", sagt Markus Meis vom Hörzentrum Oldenburg. "Stärker als vermutet nimmt bei schlechter Akustik mit der Entfernung vom Sprecher die Verständlichkeit ab."

Kann man Schall nicht ausreichend dämpfen, helfen manchmal elektroakustische Anlagen. Sie verstärken Sprachsignale von Lehrern und Schülern und verteilen sie per Lautsprecher im Raum. Da solche Anlagen den Lärmpegel aber eher erhöhen und die Mängel des Raums nicht verbessern, sind sie für Nocke und Meis nur ein Notfallplan.

© SZ vom 2.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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