Gesundheit:Erst das Geschäft, dann der Patient

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Regelmäßige Gesundheits-Checks und andere fragwürdige medizinische Zusatzleistungen nutzen vor allem den Ärzten.

Werner Bartens

Prominente wie Franz Beckenbauer und George W. Bush gehen voran. Regelmäßig teilen der deutsche Kaiser und der amerikanische Präsident mit, dass sie bester Gesundheit seien. Erst im August hatte sich Bush, 59, mal wieder "durchchecken" lassen.

US-Präsident Bush nach einer Vorsorgeuntersuchung. (Foto: Foto: AP)

Sein Ruhepuls liege mit 47 bei einem Wert, den sonst nur Ausdauersportler erreichen; er sei "hervorragend fit", meldete das ärztliche Bulletin. Seit seinem Check-up ein halbes Jahr zuvor habe der Präsident zudem vier Kilo abgenommen.

Franz Beckenbauer, 60, besuchte im Vorjahr die edle Diagnoseklinik München. "Nach einem blitzschnellen Hightech-Check hat er es sozusagen offiziell, dass er kerngesund ist", berichtete die Bunte, deren Reporter an der Klinikpforte auf Beckenbauer gewartet hatte.

Irrglaube an den Gesundheits-TÜV

Kaiser und Präsident machen es vor, Nicht-Prominente machen es nach. Auch wenn es nichts bringt - der Glaube, medizinische Probleme ließen sich beheben, wenn der Körper wie ein Gebrauchtwagen jährlich in die Inspektion zum "Gesundheits-TÜV" gebracht werde, treibt Menschen ohne Beschwerden zum Arzt.

Blutuntersuchungen, ein Test auf Herz und Nieren - der Gesundheitscheck beruhigt das schlechte Gewissen wegen eines ungesunden Lebensstils. Dabei wurde schon Ende der 1970er-Jahre Kritik laut.

Hauptvorwurf: Mit den Tests werde falsche Sicherheit vermittelt. Wirkliche medizinische Probleme decke die Untersuchung nicht auf, dazu sei sie zu unspezifisch. Die kanadische Ärztevereinigung erklärte 1979 den jährlichen Gesundheitstest für nutzlos.

Fachvereinigungen der USA und anderer Länder folgten. Mittlerweile gilt als gesichert: Der Check-up bei augenscheinlich Gesunden ist aus medizinischer Sicht überflüssig.

Im Zeichen des Igel

Dennoch ist der Glaube an den Check-up ungebrochen. Mediziner aus Denver haben 2002 untersucht, was Erwachsene vom jährlichen Gesundheitstest erwarten. Von 1200 Befragten in San Diego, Boston und Denver glaubten 66 Prozent, dass eine jährliche Routineuntersuchung zusätzlich zur allgemeinen Betreuung durch den Hausarzt notwendig sei.

Und auch Ärzte glauben noch daran, dass der jährliche Gesundheitscheck nützlich ist. Kürzlich veröffentlichte die Arbeitsgruppe aus Denver, die 2002 potenzielle Patienten befragt hatte, eine Studie mit Hausärzten (Archives of Internal Medicine Bd.165, S.1347, 2005).

Demnach hielten auch 65 Prozent der Mediziner die jährliche ärztliche Untersuchung für notwendig. Entscheidend für die Akzeptanz bei Patienten ist allerdings, wer die Kosten übernimmt. In den USA sank das Interesse der Befragten am Check-up auf 33 Prozent, wenn sie selbst zahlen sollten.

In Deutschland gibt es die Igel. Sie breiten sich in Wartezimmern aus und bedrohen Gesundheit und Geldbörse der Patienten gleichermaßen.

Welche Untersuchungen helfen wirklich? (Foto: Foto: AP)

Igel steht für "Individuelle Gesundheitsleistungen" - und diese werden von immer mehr Ärzten angeboten, die ihren Umsatz steigern wollen.

Ende der 90er-Jahre hat das Geschäft mit privaten Zusatzleistungen in der Arztpraxis begonnen. Seitdem wächst es unaufhaltsam. Auf eine Milliarde Euro wird das jährliche Volumen geschätzt, 2004 stieg es um 44 Prozent.

Igel-Leistungen gelten als Wunschleistungen, deren Kosten nicht von der gesetzlichen Kasse übernommen werden. Patienten müssen sie selbst bezahlen.

Eine Umfrage unter 8000 niedergelassenen Ärzten hat dieses Jahr ergeben, dass jeder zweite Mediziner glaubt, seine Praxis "ohne Igel auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich betreiben zu können".

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (Wido) und die Verbraucherzentrale NRW haben das Igel-Verhalten der Ärzte untersucht. Das ist schwierig, denn Igel-Zahlungen sind nirgends einsehbar und erfolgen in 15 Prozent der Fälle ohne Rechnung.

3000 Versicherte wurden zu ihren Erfahrungen mit igelnden Ärzten befragt, zusätzlich fast 900 Fragebögen in Verbraucherzentralen erhoben.

Das Ergebnis ist vor kurzem als Buch erschienen (Klaus Zok, Wolfgang Schuldzinski: Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis, Bonn 2005).

Die häufigsten Igel-Leistungen sind demnach Ultraschall, Messungen des Augeninnendrucks, "ergänzende" Tests zur Krebsfrüherkennunng, Bluttests, Bestimmungen der Knochendichte und kosmetische Leistungen.

Viele Ärzte bieten auch Mineral-, Vitamin- und andere vermeintliche Aufbaulösungen an - manchmal in Verbindung mit einem "Gesundheits-Zentrum" in der Nachbarschaft, das der Ehe- oder Geschäftspartner betreibt.

Nutzen unbewiesen

Den meisten Verfahren im Zeichen des Igel ist gemeinsam, dass ihr Nutzen nicht bewiesen ist. Rechtlich gehen sie "über das Maß einer medizinisch notwendigen ärztlichen Versorgung hinaus", definiert die Gebührenordnung für Ärzte.

Einige Igel-Leistungen, wie etwa Impfungen vor Fernreisen, sind sinnvoll. Die Mehrzahl gilt jedoch als umstritten, überflüssig oder sogar schädlich. Umstritten sind Früherkennungsuntersuchungen wie der PSA-Test auf Prostatakrebs.

Diese Art Vorsorge verlängert nicht das Leben der Betroffenen, sondern verunsichert die Patienten. Überflüssig sind zu viele Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft ("Babyfernsehen") oder ein Ultraschall des Bauchraums, ohne dass Patienten über Symptome klagen.

Bei Tests auf Nahrungsmittel-Allergien werden die Patienten mit unnötigen Blutentnahmen und anderen schmerzhaften Untersuchungen malträtiert. Sinnlos ist auch die Testosterontherapie für Männer, die angeblich in den Wechseljahren sind.

Um Igel-Leistungen an die Patienten zu bringen, werden Ärzte auf ihre neuen Marketing-Aufgaben vorbereitet. Unter der Überschrift "Igeln ist angesagt", ermunterte die Ärzte-Zeitung Mediziner, offensiv für den lukrativen Zusatzverdienst zu werben: "Patienten warten darauf, etwas von ihrem Arzt empfohlen zu bekommen."

Für dieses Geschäft muss Zeit bleiben. "Zu dem Rentner, den der Arzt wöchentlich besucht, kann er auch mal die Helferin schicken", heißt es in der Medizinerzeitschrift weiter.

Mittlerweile gibt es Zeitschriften wie Igel-Plus und Igel-aktiv, Bücher wie "Der große Igel-Check". Im Internet finden sich unter igelpraxis.de oder igelarzt.de Tipps: "Wenn Sie wissen wollen, ob sich eine beabsichtigte Investition rechnet oder nicht - hier finden Sie die Antwort."

Auf Igel-Kongressen empfehlen Marketingtrainer Ärzten "Wege zum Erfolg außerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung". Zudem werden dort "Deutschlands beste Igel-Praxen" gekürt. Auf 30.000 bis 50.000 Euro zusätzlich werden die Igel-Einnahmen pro Praxis jährlich geschätzt.

Auf Kongressen berichten Ärzte, dass "konsequentes Igeln" sogar 100.000 Euro einbringen könne. Die Preisgestaltung ist frei. Ein Chirurg erhielt 800 Euro für die Entfernung von Schweißdrüsen. Ein Gynäkologe kassierte 550 Euro für eine Magnetresonanztherapie - eine nutzlose Behandlung. Ein Allgemeinarzt verkaufte dubiose Schlankheitsmittel für 455 Euro, ein anderer nahm für "biologische Aufbaukuren" 250,53 Euro.

Patienten fragen meist nicht nach

Fast jeder vierte Patient in Deutschland - 2004 waren es etwa 16 Millionen - bekam nach Analyse der Krankenkassen und Verbraucherschützer innerhalb eines Jahres Igel-Leistungen angeboten. Meist fragen Patienten nicht, sondern Ärzte offerierten von sich aus zusätzliche Dienste.

Das ärztliche Prinzip des Helfen, Heilen, Lindern wird schnell zum Geschäft mit der Angst: Mediziner tauschen sich bereits im Internet aus, wie sie die Nachfrage der Patienten steigern können, indem sie drohende Zwei-Klassen-Medizin andeuten.

"Die gesetzlichen Krankenkassen schränken ihr Leistungsspektrum immer mehr ein", heißt ein Vorschlag, das Gespräch zu beginnen. So verunsichert, entscheiden sich viele Patienten beim Arzt nicht für "Kassenleistung allein", sondern kreuzen "Kassenleistung und zusätzliche Wunschbehandlung" an.

Von Wunsch kann selten die Rede sein. "Nur in Ausnahmen geht die Anforderung von Igel-Leistungen auf den Wunsch der Patienten zurück", hielt der Deutsche Ärztetag 2005 fest. Und: Besonders erfolgreich beim Igeln seien Gynäkologen, HNO-Ärzte und Orthopäden."

Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel, hat dieses Verhalten einiger Ärzte bereits als "Abzocke" verurteilt. Selbst Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe kritisiert, dass neuerdings vielerorts "Kommerz statt Mildtätigkeit" das Arzt-Patienten-Verhältnis bestimme.

"Wie soll der Arzt objektiv über Diagnose- und Behandlungsverfahren informieren und beraten, wenn er gleichzeitig verkaufen möchte?", fragen auch die Autoren der Igel-Analyse. "Der Patient wird zum Kunden, Gesundheit wird zur Ware."

"Man darf die Leute nicht für zu dumm halten", sagt hingegen Heinz Jarmatz vom Vorstand des Deutschen Hausärzteverbandes. "Qualität setzt sich durch. Wenn jemand viel erzählt, das auch noch extra kostet, aber nichts bringt, sind die Patienten schnell weg."

Zudem müssten Patienten lernen, dass man zu vielen ärztlichen Aussagen eine zweite Meinung einholen müsse. Die Sozialmediziner Patrick O'Malley und Philip Greenland aus Washington schlagen vor, jährliche Routineuntersuchungen in der Arztpraxis wenigstens anders zu benennen (Archives of Internal Medicine Bd.165, S.1333, 2005). "Jährlicher Gesundheitsbesuch" wäre besser als "Check-up". Arztbesuch auf eigene Kosten wäre in manchen Fällen vielleicht noch ehrlicher.

© SZ vom 22.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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