Geständnisse:"Seit jenem dramatischen Ereignis lasse ich mich nicht mehr unter Druck setzen"

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Marie-Luise Müller, Pflege-Qualitätsmanagerin, Präsidentin des Deutschen Pflegerates.

"Im Nachtdienst einer chirurgischen Wachstation muss ich als Krankenschwester bei einer Patientin, die einen Luftröhrenschnitt hat und der bei einer Operation Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter entfernt wurden, Infusionstherapie, Schmerztherapie und Wundheilung überwachen. Die Patientin liegt in einem etwas abseits gelegenen Einzelzimmer.

Marie-Luise Müller (Foto: Foto: oh)

Der Fall liegt über 30 Jahre zurück, aber ich erinnere mich noch gut daran. Ein regelmäßiges Absaugen der oberen Luftwege wird notwendig, weil die Patientin sehr verschleimt ist. Zudem ist sie unruhig, fast aggressiv. Dazu gesellt sich eine ausgeprägte Hektik auf der gesamten Station durch Neuzugänge und frisch operierte Patienten. Die Dokumentation erfolgte seinerzeit noch von Hand.

Ich hetze von Patient zu Patient. Beim Wechseln der Infusionsflasche muss ich bei der gynäkologischen Patientin die Verweilkanüle neu fixieren. Andere Patienten klingeln und rufen. Ich lasse mich von der Hektik anstecken und vergesse das vorbereitete Fixierpflaster, das ich an den Infusionsständer geklebt hatte, und verschwinde zum nächsten Patienten.

Nachdem ich die anderen Patienten versorgt habe, gehe ich wieder zu meiner gynäkologischen Patientin. Sie liegt leblos und blau-marmoriert im Bett. Die Klingel war außerhalb ihrer Reichweite gerutscht. Sie hat das Fixierpflaster vom Infusionsständer über die Kanüle gezogen, die in der Luftröhre steckt, und ist erstickt. Dieses dramatische Ereignis hat mich für mein berufliches und privates Leben nachhaltig geprägt. Seither weiß ich: Bei der Patientenversorgung geht es um mehr als nur das formale, technische Abarbeiten von Gelerntem.

Die Stimmungslage des Patienten, seine emotionalen Botschaften dürfen, auch wenn es hektisch wird, nicht ignoriert werden. Seit jenem Ereignis reagiere ich immer auf den ganzen Menschen, nehme ihn und seine Bedürfnisse ernst. Und ich lasse mich nicht mehr unter Druck setzen."

Protokoll: Aktionsbündnis für Patientensicherheit

© SZ vom 28.02.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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