Gehirn:Erkenntnis über das Erkennen

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Die Fähigkeit des Menschen, Gesichter zu unterscheiden, ist offenbar vor allem eine Frage der Übung.

Philip Wolf

Die Unterschiede sind meist winzig: die Formen von Nase, Mund und Augen, ihre Abstände zueinander, die Höhe der Wangenknochen und der Stirn. Lange haben Neuroforscher gerätselt, auf welche Weise das menschliche Gehirn dennoch treffsicher Gesichter unterscheiden kann.

So komplex ist diese Aufgabe, wie erstmals 1969 der amerikanische Psychologe Robert Yin in einem Experiment herausfand, dass man ein Porträt nur auf den Kopf stellen muss, und schon ist der Gesichts-Erkennungsdienst im Hirn des Betrachters überfordert.

Weil dies bei anderen Objekten wie Häusern oder Autos nicht so ist, vermuteten Neuroforscher bislang, dass der Mechanismus der Gesichtserkennung im Hirn ganz anders, komplizierter und offenbar abgelöst von der Verarbeitungsweise schlichterer Betrachtungs-Objekte funktioniert.

Doch nun geraten die darauf gegründeten Theorien ins Wanken. "Der Umkehr-Effekt zeigt gerade nicht, dass Gesichter uns besondere Leistungen abverlangen, sondern nur, dass wir in ihrer Erkennung besonders geübt sind, weil Gesichter für uns besonders wichtig sind.

Wir nehmen sie genauso wahr wie andere Gegenstände auch - nur hat das Gehirn so viel Training darin, dass wir die eingeübte Verarbeitungsweise nicht ablegen können", sagt der Neuroforscher Maximilian Riesenhuber von der amerikanischen Georgetown University.

Mit den Ergebnissen seiner jüngsten Studie ( Neuron, Bd. 50, S. 159, 2006) könnte der Sohn des früheren deutschen Wissenschaftsministers Heinz Riesenhuber die Erforschung von Wahrnehmungsprozessen im Gehirn in eine neue Richtung lenken.

Erkennen durch Training

Für Menschen zum Beispiel, die unter Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) leiden und zwar Häuser und Autos, nicht aber ihre Mitmenschen unterscheiden können, bestünde demnach die bislang nicht erwogene Chance, dass sie das Erkennen von Gesichtern durch viel Training von Grund auf erlernen.

Nach einer Erhebung von Thomas Grüter vom Institut für Humangenetik in Münster leiden zwei Prozent der Bevölkerung unter Prosopagnosie. Und weil diese auch oft mit Autismus einhergeht, versprechen sich Riesenhuber und sein Team weitere Erkenntnisse: Die nationalen Gesundheitsbehörden in den USA fördern sein Folgeprojekt zur Autismusforschung.

Riesenhubers Beobachtungen verraten nämlich, dass das Gehirn gar keine komplizierten Berechnungen anstellt, um etwa die Größe einzelner Nasen- oder Augen-Partien und ihre Relationen zueinander zu erfassen. Vielmehr nehme eine auf die Gesichtserkennung spezialisierte Neuronengruppe jedes Gesicht als "Gesamtgestalt" wahr und verarbeite kleine Unterscheidungsmerkmale in winzigen Abweichungen der gruppeninternen Aktivität - ähnlich wie es weniger spezialisierte Neuronen bei der Betrachtung anderer Objekte tun.

Das haben Riesenhuber und seine Kollegen mit Hilfe eines Kernspintomographen herausgefunden, der die Hirne von Probanden beobachtete, während diese computergenerierte Gesichts-Bilder betrachteten.

Hunde auf den Kopf gestellt

Riesenhubers Team zeigte den Probanden zwei unterschiedliche Gesichter an den Enden einer Porträtreihe. Zur Mitte der Reihe hin waren die zwei Gesichter immer stärker miteinander vermischt. "Wenn ich die Gesichter einander nach und nach angleiche, sehe ich, wie sich bei der Betrachtung auch die Neuronen-Aktivität angleicht", sagt Riesenhuber.

Und im selben Maß nehme auch die Fähigkeit der befragten Testpersonen ab, die zwei Gesichter zu unterscheiden: Eine Art von Hirnaktivität, die auch jener bei der Wahrnehmung anderer Objekte wie Autos entspreche, "nur ist bei der Betrachtung von Autos einerseits die Zahl der beteiligten Neuronen geringer", sagt Riesenhuber.

Andererseits habe sich - offenbar aufgrund geringeren Trainings - bei den meisten Menschen keine spezialisierte Gruppe benachbarter Neuronen zur Erkennung von Autos oder Häusern gebildet. Bei der Gesichtserkennung hingegen wird eine spezielle Zellgruppe, die FFA (fusiform face area) auf der Hirnrinde hinter dem Ohr aktiv.

Bislang hatten Neuroforscher angenommen, dass nur dieser FFA-Bereich im Hirn es ermögliche, Gesichter zu erkennen. Gesichtsblinde, bei denen die FFA-Neuronen offenbar gestört sind, galten als Beleg für die Einzigartigkeit dieses Mechanismus. Durch die Unfähigkeit des Menschen, auf den Kopf gestellte Porträts zu erkennen, schien belegt, dass die FFA ganz anders arbeite als die Erkennungs-Mechanismen für andere Objekte.

In Vergessenheit sei darüber jedoch eine ältere Studie von 1986 geraten, sagt Riesenhuber, in der die Psychologen Rhea Diamond und Susan Carey vom Massachusetts Institute of Technology sich mit Preisrichtern befasst hatten, die seit Jahren auf Hundeschauen den Körperbau von Rassetieren begutachteten: Diese Männer und Frauen konnten anhand auf den Kopf gestellter Bilder von Hunden die Körper-Qualitäten der Tiere nicht erkennen.

"Das war der erste Hinweis, dass es gar nicht um die Objekte der Betrachtung, Gesichter, Hunde, Autos oder Häuser geht, sondern allein um die Erfahrung mit einem Objekt der Betrachtung", sagt Riesenhuber. Auch die Erkennung von Gesichtern scheine sich demnach trainieren zu lassen. "Dann nehmen vielleicht andere Hirnareale als die FFA diese Aufgabe wahr."

Riesenhubers Team hat die Hypothese jetzt auch mit Bildern von Autos an Normalbürgern und ausgewiesenen Auto-Experten überprüft. "Sie scheint sich zu bestätigen", sagt Riesenhuber. Die Auto-Experten hätten demnach mehr Schwierigkeiten, auf den Kopf gestellte Modelle zu identifizieren als andere Menschen.

"Auch an Schmetterlings-Experten ist dieser Inversionseffekt jüngst gezeigt worden, sie konnten die Tieren nicht mehr so gut zuordnen, weil ihre Schmetterlings-Neuronen wohl ähnlich scharf getunt sind wie bei gewöhnlichen Menschen die FFA-Neuronen."

"Diese Ergebnisse sind interessant", urteilt Hanspeter Mallot von der Universität Tübingen. "Denn sie zeigen, dass auch Gesichtserkennung Übungssache ist." So ließe sich zum Beispiel auch erklären, warum es Europäern schwer fällt, asiatische Gesichter zu unterscheiden und Asiaten umgekehrt, europäische Gesichter auseinander zu halten. "Sie haben nicht so viel Übung darin."

Dennoch warnt Mallot davor, die Einzigartigkeit dieser Leistung und ihre Kopplung an ein eigenes, spezielles Hirnareal zu ignorieren. "Babys etwa zeigen noch keine Spezifität für aufrechte Gesichter und damit keinen Inversionseffekt." Vermutlich werde der Hirnbereich FFA also erst später auf die Wahrnehmung aufrechter Gesichter trainiert.

Ob bei einer Schädigung der FFA auch andere Hirnregionen die Aufgabe der hochspezialisierten Neuronengruppe übernehmen können und sich Prosopagnosie-Betroffenen durch Training helfen lässt, bliebe dann offen.

"In dieser Studie wird schlichtweg behauptet, dass die Erkennung von Gesichtern keine einzigartig komplexe Aufgabe sei", kritisiert auch der Neuroinformatiker Christoph von der Malsburg von der Universität Bochum. "Aber wir benötigen dazu Spezialfunktionen. Wir können Gesichter zum Beispiel ja auch bei unterschiedlicher Beleuchtung und Perspektive wiedererkennen, und zwar nur, weil unser Gehirn auf hochkomplexe Weise Gesichtsmodelle erzeugt - ein riesiger Aufwand, der in Riesenhubers Studie völlig ignoriert wird."

Der Mitautor der Studie, Volker Blanz, der an der Universität Siegen Computergraphik lehrt und die digitalen Porträts für Riesenhuber generiert hat, sieht in der angeblichen Schlichtheit der menschlichen Gesichtserkennung hingegen einen großen Nutzen - allerdings für die Informatik: "Vom Hirn können wir lernen, dass die Gesichtserkennung offenbar auch technisch einfacher lösbar sein muss als bislang angenommen. Ein einfacher Code, ein so genanntes Spars Coding, müsste ausreichen, um künftige Rechnersysteme zur Gesichtserkennung zu programmieren."

Wie genau, lasse sich zwar noch nicht beantworten. Die Idee wollten er und seine Fachkollegen aber verfolgen.

© SZ vom 18.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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