Forschen am Polarmeer:Im Hüttendorf auf der Scholle

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Ein deutscher Wissenschaftler lässt sich einen Winter lang durch das Polarmeer treiben, um die Klimaforschung voranzubringen.

Michael Fuhs

Bald wird die Sonne über dem Labor von Jürgen Graeser endgültig untergegangen sein. Und die Horde Eisbären, die er zurzeit abwehren muss, dürfte nur ein Vorgeschmack auf das sein, was ihn in den kommenden Monaten erwartet. Der 49-jährige Wissenschaftstechniker von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung kampiert zusammen mit 20 russischen Kollegen auf einer Scholle im Packeis, die während des kommenden Winters einmal quer durch die Arktis treiben wird.

Russische Forscher erkunden bereits seit 1937 das Polarmeer von driftenden Eisschollen aus. Meeresströmungen und Winde treiben sie quer durch die Arktis. Jürgen Graeser ist der erste Ausländer, der nun als Bewohner auf der Station Nordpol-35 zugelassen wurde. Verantwortlich dafür sind die guten Beziehungen, die das Alfred-Wegener-Institut zum russischen Arktis- und Antarktis-Forschungs-Institut in Sankt Petersburg unterhält, betont Abteilungsleiter Klaus Dethloff aus Potsdam.

Die Arktis, ein weißer Fleck

Dass das Unternehmen nicht ganz ungefährlich ist, hatten deutsche Forscher bereits vor drei Jahren erfahren. Damals stießen sie zufällig auf die Überreste der Vorgängerstation Nordpol-32. Die Russen hatten sie aufgeben müssen, als sie von anderen Eisschollen unter Wasser gedrückt wurde. Jürgen Graeser lässt sich dadurch nicht abhalten, obwohl er einen besonnenen Eindruck macht und eigentlich kein Abenteurer ist. In seinen Augen ist die Forschungsreise eine einzigartige Gelegenheit, einerseits um etwas ganz Besonderes zu machen, andererseits um die Klimaforschung voranzutreiben.

Trotz moderner Satellitenaufklärung ist die Arktis, was Klimadaten angeht, nämlich immer noch zu einem guten Teil ein weißer Fleck, sagt Graeser. Satelliten fliegen selten über den Nordpol. "Und Flugzeuge und Schiffe sind sehr teuer, zumindest für Langzeitmessungen." Während die russischen Forscher von der Scholle aus die obere Meeresschicht, das Meereis und die Schneebedeckung untersuchen werden, wird der Deutsche mit Ballons täglich Daten in der Atmosphäre messen und nach Potsdam funken.

Dazu dienen zwei Methoden. Zum einen wird er einen Wetterballon mit einem Seil am Boden fixieren. Die in eine Höhe von 500 bis 800 Meter gehobenen Sensoren messen kontinuierlich Druck, Feuchtigkeit, Temperatur, Windrichtung, Windgeschwindigkeit und Ozonkonzentration. Gleichzeitig lässt Graeser in regelmäßigen Abständen Ballons frei nach oben steigen, bis sie in zirka 30 Kilometer Höhe platzen. Mit ihnen will er die Höhenprofile bestimmen.

"Gerade hat er die ersten Daten übermittelt. Die Technik funktioniert also", sagte Klaus Dethloff am Mittwoch. Er wird die von nun an täglich zu ihm gefunkten Datenpakete mit seinem Team auswerten. "Das Zusammenspiel zwischen Prozessen in der Atmosphäre, dem Ozean und dem Meereis in dieser Region verstehen wir noch kaum." Das liege zu einem guten Teil an "regionalen Rückkopplungseffekten". Darunter verstehen die Wissenschaftler sich selbst verstärkende Prozesse, die das Klimasystem in der Arktis besonders stark treffen. Wenn zum Beispiel Meereis durch die Klimaerwärmung zunehmend taut, bleibt Wasser zurück, das die Sonnenstrahlung viel stärker absorbiert, sodass sich Wasser und Luft zusätzlich aufheizen. "Die Unsicherheit der globalen Klimamodelle ist zum großen Teil mit den Unsicherheiten in der Arktis verknüpft", sagt Dethloff.

Eine ovale Eisscholle

Dem pflichtet auch Johann Jungclaus bei. Er leitet am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Klimamodellen. Deren Schwächen speisen sich zurzeit aus zwei Quellen. Zum einen ist nicht exakt vorhersehbar, wie viel Kohlendioxid die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten wirklich freisetzen wird.

Aus unterschiedlichen Szenarien resultiert die relativ große Spanne der Prognosen für 2100. Der Weltklimarat IPCC hat sie auf 1,1 bis 6,4 Grad Celsius Erwärmung gegenüber dem Zeitraum von 1980 bis 1999 beziffert. Zum anderen weichen die 20 verschiedenen Modelle, die in den IPCC-Bericht eingeflossen sind, bei einzelnen Szenarien aber um bis zu ein Grad voneinander ab. Diese Differenzen entstehen zu einem großen Teil, "da die Prozesse in den Wolken und die Vorgänge bei der Eisbildung in Arktis und Antarktis nicht ausreichend geklärt sind", erklärt Johann Jungclaus.

Graesers Reise ging am 28. August in der sibirischen Hafenstadt Tiksi los. Von dort brachte das Forschungsschiff Akademik Fedorow die 21-köpfige Mannschaft - Frauen sind nicht zugelassen - in das Polarmeer. Zunächst sah es nicht so aus, als fände sich eine geeignete Scholle. Das Nordpolarmeer ist zu warm. "So wenig Eisbedeckung wie in diesem Jahr hatte das Polarmeer noch nie", sagt Klaus Dethloff. Zwischenzeitlich sollte das Vorhaben abgeblasen werden und die Station stattdessen auf einer Insel aufgebaut werden. Doch einen Monat nach dem Start wurden die Experten noch fündig: Eine ovale Eisscholle, fünf Kilometer lang, drei Kilometer breit, erwies sich als ausreichend haltbar. Sie ist mehr als zwei Meter dick, sodass sie vermutlich nicht brechen wird.

Zur Zeit bauen die Wissenschaftler auf der Scholle eine kleine Siedlung auf, die aus Holzhütten, einer Dieselelektrostation, einer Küche und einer Messe bestehen wird. Je nach Position der Scholle wird es ab November rund um die Uhr stockdunkel sein. Die Sonne zeigt sich erst wieder im Februar. Die Einschränkungen sind groß und Jürgen Graeser will sich sehr auf seine Arbeit konzentrieren, "vermutlich 16 Stunden am Tag". Einmal die Woche ist Waschtag. "Am meisten werden mir vermutlich die Sonne und das Grün fehlen", übermittelt er per Satelliten-Telefon.

Die Route, die die Forschungsreisenden nehmen, bleibt dem Zufall überlassen. Sie möchten gerne von Sibirien über den Nordpol nach Grönland reisen, haben aber keinen Einfluss darauf. Nur eines ist klar: Im April soll die Reise für Jürgen Graeser zu Ende gehen. Ein Flugzeug holt den Potsdamer Wissenschaftler dann wieder ab.

© SZ vom 18.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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