Evolution:Streit um den Ursprung der Säuger

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Knochen oder Moleküle? Fossilienfunde und Genanalysen liefern zwei Versionen der Säugetier-Entstehung. Nun wollen Forscher aus den streitenden Lagern zusammenzuarbeiten.

Marcus Anhäuser

Evolutionsbiologen müssen bei ihren Zeitangaben nicht kleinlich sein. Ob nun eine Tier- oder Pflanzenart tausend Jahre früher oder später entstanden ist, spielt in erdgeschichtlichen Zeiträumen kaum eine Rolle.

Eomaia scansoria gilt als das älteste Plazentatier. (Foto: Foto: /AP/Mark A. Klinger/Carnegie_Museum)

Jetzt aber gibt es nennenswerten Streit - um den Ursprung der Säugetiere. Die einen datieren ihn auf eine Zeit vor 100 Millionen Jahren, die anderen vermuten ihn erst 40 Millionen Jahre später.

Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Debatte, in der es nicht nur um zwei verschiedene und jeweils gut begründete Versionen der Säugetier-Evolution geht.

Auch bei den Vögeln, den Pflanzen oder überhaupt den mehrzelligen Organismen sind Forscher uneins, wann der jeweilige Ast am Stammbaum des Lebens zu sprießen begann. Teilweise liegen die vermuteten Anfänge mehrere hundert Millionen Jahre auseinander.

Als die Dinosaurier ausstarben, begann der Aufstieg der Säugetiere. Dieses Schulbuchwissen wurde zuletzt im März im Magazin Nature erschüttert (Bd. 446, S. 507, 2007). Demnach betraten die Säugetiere die Bühne des Lebens nicht erst nach dem Ableben der Saurier vor 65 Millionen Jahren.

Die Wurzeln der als Plazentatiere bezeichneten größten Säugergruppe reichen gemäß den Untersuchungen des Evolutionsbiologen Olaf Bininda-Emonds bis zu 100 Millionen Jahre in die Kreidezeit zurück - der Hochzeit der Saurier. Der Forscher von der Universität Jena hatte Genabschnitte von fast allen der heute lebenden 4554 Säugetierarten verglichen und daraus den evolutionären Stammbaum nachgezeichnet.

Diese These sei schlicht falsch, hält eine John Wible vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh dagegen. Der Paläontologe veröffentlichte drei Monate später ebenfalls in Nature seine Version der Säugetierevolution, die das Bild wieder auf die bisher bekannten Maßstäbe zurückrechnete (Bd. 447, S. 1003, 2007).

Wible stützt seine Ergebnisse auf Fossilienfunde: "Der älteste Vertreter der Plazentatiere ist ein dem Hasen ähnlicher Kleinsäuger, der vor etwa 63 Millionen Jahren lebte", meldete er.

Die Grenze zwischen den beiden Lagern lässt sich leicht ziehen. Die Forschungsmethode bestimmt die Sicht der Dinge. Die einen durchwühlen die Erde nach Fossilien, den versteinerten Resten längst augestorbener Lebewesen in prähistorischen Erdschichten. Sie versuchen, aus erkennbaren Unterschieden und Gemeinsamkeiten evolutionäre Verwandtschaft zwischen verschiedenen Organismen und letztlich den Stammbaum des Lebens nachzuzeichnen.

Die anderen analysieren stattdessen in Hightech-Labors die Gene und Eiweißstoffe lebender Tiere. Sie lauschen seit den 60er-Jahren sozusagen dem Ticken der "molekularen Uhr". Ihrer Theorie zufolge treten im Laufe der Evolution zufällig Genmutationen in vergleichsweise regelmäßigen zeitlichen Abständen auf. Aus den genetischen Unterschieden zweier Arten kann man somit errechnen, wann sie sich im Laufe der Erdgeschichte trennten.

Streit seit Mitte der 90er Jahre

Der Streit um die Säugerevolution begann Mitte der 1990er Jahre, als die ersten aus der Molekularbiologie gewonnenen Stammbäume der Säuger erschienen, die den Ursprung der Plazentatiere auf einen Zeitpunkt vor etwa 100 bis 110 Millionen Jahren legten.

"Das war weit entfernt von dem, was bis dahin alle geglaubt hatten", sagt Michael Benton, Paläontologe von der University of Bristol, ein führender Kopf in der Debatte zwischen Gen-Paläontologen und Fossiliensuchern.

Fast zeitgleich hatten Fossilienforscher Überreste von Tieren entdeckt, die sie auf ein Alter von etwa 90 Millionen Jahren schätzten, und die so aussahen, als könnten sie zumindest für einen Teil der heutigen Säugerlinien die Vorläufer gewesen sein. "Zeitweise waren wir nur fünf bis zehn Millionen Jahre auseinander", sagt Benton.

Doch die Einordnung, die sich auf Merkmale der Zähne stützte, war zu optimistisch. John Wible analysierte die Gebisse nochmals und kam zu dem Ergebnis, dass sie zwar ähnlich aussehen wie die von Plazentatieren, aber durch "konvergente Evolution" entstanden seien. Davon spricht man, wenn die Natur ähnliche Umwelt-Anforderungen mit ähnlicher Morphologie beantwortet. Ein Beipiel sind die stromlinienförmigen Körper von Haien und Delfinen.

Wible sprach den fraglichen Plazentatieren daher die Zuordnung "Säuger" wieder ab. "Heute sind wir wieder 30 bis 40 Millionen Jahre auseinander", klagt Benton.

Doch so selbstbewusst die Vertreter beider Lager ihre Ergebnisse präsentieren - sie sind sich der Schwächen ihrer jeweiligen Methode auch bewusst. "Mit Fossilien unterschätzt man den Beginn einer taxonomischen Gruppe", sagt Philip Donoghue, der wie Benton an der University of Bristol als Paläontologe arbeitet.

Es wäre schon außerordentliches Glück, den ältesten Vertreter einer Gruppe auszugraben, angesichts der Seltenheit von versteinerten Überresten. Meist sind die Funde zudem unvollständig und die zeitliche Einordnung fällt schwer, wenn man nur ein paar Zähne oder einen Oberschenkelknochen findet. Wo nichts fossilisiert, wie bei Weichtieren oder Bakterien, versagt die Methode völlig.

Aber auch der molekularbiologische Ansatz ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Größter Kritikpunkt ist die Grundidee der molekularen Uhr: "Die Annahme, wonach genetische Mutationen in gleichmäßigen Abständen auftreten, ist nicht korrekt", sagt Thomas Martin, Paläontologe an der Universität Bonn.

"Die molekulare Uhr ist sicher keine Rolex"

Je weiter man in der Zeit zurückgehe, desto unregelmäßiger ticke die Uhr, die Abweichungen werden immer größer. Die Mutationsrate variiert über verschiedene Zeiträume, zwischen Organismengruppen, selbst zwischen Vertretern derselben Gruppe in verschiedenen Regionen der Erde.

"Die molekulare Uhr ist sicher keine Rolex", gesteht auch Olaf Bininda-Emonds ein. Die Genanalysten wissen um diese Fehler und versuchen sie durch rechnerische und statistische Tricks zu korrigieren. Aber die Molekülforschung hat noch eine gravierende zweite Schwäche: "Sie braucht Fossilien, um die molekularen Daten zu kalibrieren", sagt Donoghue.

Aus DNS-Sequenzen lässt sich nur herauslesen, nach wie viel Millionen Jahren ihrer Existenz sich zwei Arten getrennt haben, aber nicht, zu welchem Zeitpunkt in der Erdgeschichte das geschah. Dazu braucht es gesicherte Meilensteine, in Form von Fossilien. Darauf war auch Olaf Bininda-Emonds angewiesen. "Wo es aber so gut wie keine Fossilien gibt, wie im Zeitraum vor dem Ende der Saurier, müssen wir die Daten extrapolieren."

Angesichts der Defizite auf beiden Seiten hatten Michael Benton und sein Kollege Philip Donoghue irgendwann genug von dem Streit. Im Fachblatt Trends in Ecology and Evolution (Bd. 22, S. 424, 2007) riefen sie kürzlich ihre Kollegen in beiden Lagern auf, ihre Animositäten endlich beiseite zu legen und zusammenzuarbeiten.

"Rocks and Clocks" (Steine und Uhren) seien zusammen eine unschlagbare Kombination, proklamierten die beiden Paläontologen. "Beide Methoden stimmen häufiger überein, als dass sie sich widersprechen, vor allem auf niedrigeren taxonomischen Ebenen", sagt Michael Benton. Auch in Fällen wie der Säugetierevolution sei ein Zusammenkommen möglich.

Das zeigt ausgerechnet die menschliche Evolution - zumindest zeitweise. In den sechziger und siebziger Jahren glaubten Paläoanthropologen, dass sich die menschliche Linie vor etwa 15 bis 20 Millionen Jahren von der Affenlinie trennte.

Molekularbiologen waren nach Analysen der Eiweißsequenzen der Blutfarbstoffe Hämoglobin und Myoglobin aber auf fünf bis sieben Millionen Jahre gekommen. "Die analysierten Fossilien hatten sich dann aber als Affenvorfahren erwiesen oder als tote Zweige auf dem Weg der Affen-Mensch-Evolution", sagt Benton. Das Fossilienlager akzeptierte daraufhin die Molekulardaten stillschweigend.

Streit um die Menschwerdung

Inzwischen gibt es auch um die Menschwerdung wieder Streit, allerdings geht es nur noch um zwei bis drei Millionen Jahre. Während die Molekularbiologen errechnen, dass sich Mensch und Schimpanse vor fünf bis sechs Millionen Jahren trennten, tendieren die Paläontologen auf sieben bis neun Millionen Jahre.

Die Entdeckung des Millenium-Manns Orronin am Anfang dieses Jahrtausends und des Sahelanthropus stärkten das Selbstbewusstsein der Knochensucher. Die Funde sollen sechs und sieben Millionen Jahre alt sein, tragen aber Merkmale des Menschen sowie der Affenlinie. Folglich müssen sich die beiden Zweige schon vorher getrennt haben.

Zuletzt präsentierten im August Paläontologen Zahnfossilien in Nature (Bd. 448, S. 921, 2007), die von einem etwa zehn Millionen Jahre alten Gorillavorfahren stammen könnten. Die Entdecker folgerten daraus, Mensch und Schimpanse hätten sich wahrscheinlich vor neun Millionen Jahren getrennt.

Gemessen an diesen Befunden ist die Differenz im Streit um den Beginn der Säugetiere weit größer. Selbst Michael Benton, der im Trends-Artikel als Vermittler zwischen den beiden Lagern auftritt, beharrt auf der Meinung, die er bereits vor acht Jahren veröffentlichte: "Wenn die Molekularbiologen Recht hätten, und die Plazentatiere sind vor 80 bis 100 Millionen Jahren entstanden, dann bedeutet dies, dass fast die Hälfte der Fossilien bei Säugern und Vögeln fehlt.

"Das ist einfach zu unwahrscheinlich", sagt er. Die Fossilfunde sagen demnach: Die modernen Säugetiere sind erst mit dem Aussterben der Saurier entstanden.

Aber Benton weiß auch, auf welch wackligen Füßen dieser Fossilienstammbaum steht: Ein einziger Fossilienfund in Erdschichten der Kreidezeit, etwa einer Urzeitgiraffe, würde die traditionelle Sichtweise der Fossilienfraktion hinwegfegen.

Doch Benton ist sicher, dass den niemand finden wird, "weil es ihn nicht gibt". Olaf Bininda-Emonds hält dagegen: "Es gibt eine Menge Leute, die nach genau diesem einen Fund intensiv suchen."

© SZ vom 9.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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