Europa:Im Griff des Klimawandels

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Wandernde Tierarten, schmelzendes Eis - die Europäische Umweltagentur warnt vor Folgen des Klimawandels für alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche.

Christopher Schrader

Die Feuerlibelle und der Amerikanische Petersfisch haben erstaunliche Reisen hinter sich. Der bis zu 80 Zentimeter große Tropenfisch wurde 1966 zum ersten Mal vor Portugal gefangen, 1995 dann an der englischen Südküste. Sein Lebensraum weitet sich pro Jahr um 50 Kilometer nach Norden aus.

Der Morteratsch-Gletscher bei Pontresina im Oberengadin schrumpft seit Jahrzehnten, wie das Schild zeigt. Über einen halben Kilometer brauchen Wanderer von der Tafel noch, um wirklich die Zunge des Eismassivs zu erreichen. (Foto: Foto: AP)

Die signalrote Feuerlibelle hingegen hatte in den 1990er-Jahren den Süden Deutschlands erreicht. 2007 wurde sie in Schleswig-Holstein entdeckt und schwirrt jetzt in allen Bundesländern.

Beide Tierarten hat wie viele andere der Klimawandel auf Reisen geschickt. Das hat soeben die Europäische Umweltagentur (EEA) mit Sitz in Kopenhagen in einem umfassenden Bericht dargestellt.

Demnach hat die globale Erwärmung den Kontinent längst erfasst; die Agentur zeigt das an 40 Indikatoren. "Der Report macht plakativ klar, dass manche Regionen und Sektoren in Europa durch den Klimawandel gefährdet sind", sagt EEA-Chefin Jacqueline McGlade. "Wir sehen deutliche Warnsignale für alle Lebens-und Wirtschaftsbereiche", ergänzt Thomas Holzmann, Vizepräsident des Umweltbundesamtes.

Europa hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stärker erwärmt als der Rest der Welt. Während die Temperaturen im globalen Mittel seit der Industrialisierung um durchschnittlich 0,8Grad Celsius angestiegen sind, ist es zwischen Kreta und Nordkap, Portugal und Polen um ein ganzes Grad wärmer geworden.

Der Klimawandel beeinflusst die Regionen allerdings sehr unterschiedlich. Während der Norden Europas von den eingetretenen Effekten zunächst profitiert, hat der Süden nur Nachteile.

Am Mittelmeer ist die Regenmenge in manchen Regionen während des vergangenen Jahrhunderts bereits um ein Fünftel gesunken. Die in Zukunft weiter abnehmenden Niederschläge und zunehmende Hitze schädigen die Landwirtschaft, lassen Flüsse schrumpfen, steigern das Waldbrand-Risiko, begünstigen neue Krankheitserreger und vergraulen die Touristen.

Der Norden hingegen erlebt bereits mildere Temperaturen und teilweise 40 Prozent mehr Regen. In Zukunft werden die Wälder größer, die Ernten auf Feldern besser, Flüsse fließen reichlicher und Wasserkraftwerke liefern mehr Strom, während die Heizung im Winter weniger Energie verbraucht.

Besondere Veränderungen erleben auch die Gebirgsregionen. Hier haben die Gletscher seit 1850 zwei Drittel ihres Volumens verloren. Daran ist der Klimawandel nicht allein schuld, wie die EEA-Experten klarstellen.

Mitte des 19.Jahrhunderts kam nicht nur die Industrialisierung in Schwung, zugleich ging in Europa auch die "kleine Eiszeit" zu Ende, die den Gletschern zuvor dramatisches Wachstum beschert hatte. Beide Effekte zusammen ließen die Gletscher bis 1970 auf die Hälfte ihres Volumens zusammenschmelzen.

Inzwischen aber sorgt allein der Klimawandel für rasant zunehmende Eisverluste: Während die Gletscher in den 1990er-Jahren im Schnitt 30 Zentimeter pro Jahr an Dicke einbüßten, sind es seit dem Jahrtausend-Wechsel 50 Zentimeter pro Jahr.

Die rote Feuerlibelle schwirrt inzwischen in allen Bundesländern. (Foto: Foto: Eric Steinert, Verwendung gemäß GNU Lizenz zur freien Dokumentation)

Fluten, Hitzewellen, Insekten und Parasiten

Sogar die Gletscher in Norwegen schmelzen dem Bericht zufolge inzwischen, an denen Kritiker der Klimaforschung wegen ihres anhaltenden Wachstums lange Zeit ihre beschwichtigende Argumentation festgemacht hatten. Auch auf Europas Flüssen und Seen gibt es immer weniger Eis: Zwölf Tage kürzer als zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Gewässer heute im Winter-Durchschnitt zugefroren. Die Schneedecke ist um fünf Prozent während der vergangenen 40 Jahre geschrumpft.

Das alles hat profunde Auswirkungen auf die Bewohner Europas. Die Menschen müssen sich auf zunehmende Wetterextreme, Fluten und Hitzewellen einstellen und vor Insekten und Parasiten schützen, die nach Norden vorankommen. In der gesamten Natur verändern sich die Nahrungsketten.

Im Meer blühen die Algen einen Monat früher, das Plankton erreicht vier bis fünf Wochen früher seinen Höchststand. An Land beginnen Frühling und Sommer acht Tage früher als noch 1970. Pflanzen schicken ihre Pollen zehn Tage früher aus als vor 50 Jahren oder schlagen - wie die englischen Eichen - drei Wochen früher aus.

Viele Tier- und Pflanzenarten ziehen entweder nach Norden oder in höhere Lagen auf Hügeln oder Berge. Auf dem Gipfel des Piz Lagalb, 2959 Meter hoch im Engadin, hat sich zum Beispiel die Zahl der Spezies in einem Jahrhundert von 18 auf 30 erhöht.

In Not geraten aber nun die Arten, die am besten an die Kälte angepasst sind. Für Vögel wiederum haben Forscher errechnet, dass sie am Ende dieses Jahrhunderts 550 Kilometer weit nach Nord-Osten ausweichen müssen, um für das Brüten ähnliche Bedingungen zu finden wie heute. Petersfisch und Feuerlibelle sind offenbar nur die Vorhut.

Den Bericht der Europäischen Umweltagentur finden Sie hier

© SZ vom 02.10.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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