Erfahrungsbericht:Leben auf der ISS

Lesezeit: 3 min

Der Esa-Astronaut Umberto Guidoni, der als erster Westeuropäer die Raumstation betreten und immerhin schon zwei Space-Shuttle-Missionen absolviert hat, beschreibt das Leben im Weltall.

Zuallererst muss man zum totalen Ordnungsfanatiker werden. Man kann nicht einfach irgendwelche Dinge irgendwo ablegen, weil sie nicht abgelegt werden können. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, schwebt langsam aber sicher davon. Einmal wäre mir auf diese Weise beinahe eine Diskette abhandengekommen, auf der wichtige Daten gespeichert waren.

Umberto Guidoni im April 2001 kopfüber bei der Arbeit in der ISS. (Foto: Foto: AP/Nasa)

Man muss also alles irgendwie dingfest machen, mit Klebeband oder primitivem Klettverschluss - das klingt zwar technologisch nicht sehr anspruchsvoll, und doch sind dies zwei der elementarsten Erfindungen für das praktische Leben im Weltraum!"

Das Gefühl der Schwerelosigkeit

In der Schwerelosigkeit schwebt man einfach im Raum herum, es ist ein bisschen wie unter Wasser. Vor meinem ersten Flug ins All war dies die Erfahrung, die der Schwerelosigkeit am nächsten kam. Man fühlt sich also irgendwie wie unter Wasser, nur ohne Wasser.

Man fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes neben sich, man hat einfach keine richtige Kontrolle über seinen Körper. Will man in eine bestimmte Richtung schauen und dreht den Kopf, merkt man am Ende des Bewegungsvorgangs, dass man ihn zu weit gedreht hat. Der Körper adaptiert sich allerdings relativ schnell an die neue Umgebung, obwohl es ungefähr 24 Stunden dauert, bis man sich von anfänglichem Schwindel und Übelkeit erholt hat. Danach ist das Leben in der Schwerelosigkeit eigentlich ganz lustig. Aber es dauert schon mehrere Tage bis eine Woche, bis man wirklich effizient arbeiten kann.

Die Gefahr ist groß, dass man die Orientierung verliert. Ich kann mich erinnern, wie ich einmal in einem der Verbindungsmodule so vor mich hin gearbeitet habe. Ich war wohl zu konzentriert, um zu merken, dass ich mich langsam gedreht hatte und als ich dann von der Arbeit aufsah, wusste ich plötzlich nicht mal mehr wo oben und unten war.

Wenn man die Raumstation nach einem langen Flug im Shuttle betritt, ist es, als käme man von einem Einbettzimmer in eine geräumige Villa. Momentan ist die ISS ein einziges langes schlauchförmiges Gebilde, dessen Korridore mit den einzelnen Modulen verbunden sind.

Man denkt sich: Super! Da rauschen wir jetzt einfach Mal von vorne bis hinten durch! Aber Astronauten wie ich, die nur auf Kurzzeitmission oben sind, schaffen das einfach nicht. Die Kollegen, die dagegen längere Zeit auf der ISS sind, sind wahre Profis: Sie können von einem Ende zum anderen fliegen, ohne ein einziges Mal anzuecken. Das nenne ich Spaß!

Essen, Schlafen und andere alltägliche Vorgänge

Das mit dem Essen ist gar nicht so einfach. Meistens nimmt man die Nahrung mit einem Löffel aus einem Plastikbeutel zu sich - ganz vorsichtig! Eine hastige Bewegung, und schon fliegt der Bissen davon und klatscht irgendwo an die nächste Wand. Trotzdem versuchen wir, die Mahlzeiten zivilisiert und in geselliger Runde einzunehmen.

An Bord des russischen Swesda-Moduls gibt es sogar einen Esstisch, der mitunter als willkommener Referenzpunkt dient, wenn man mal wieder nicht weiß, wo gerade "unten" und "oben" ist. Die Füße steckt man am besten in die am "Boden" befindlichen Schlaufen, sonst driftet man ganz einfach davon. Deshalb ist auch das Schlafen eigentlich nur eine Frage des richtigen Fixierens. Man befestigt seinen Schlafsack an irgendeiner Stelle und kriecht dann hinein. Da die Geräuschkulisse an Bord ziemlich heftig sein kann, benutzen viele Astronauten Ohrenschützer.

(Die Geräusche werden hauptsächlich von den Ventilatoren erzeugt, die unbedingt notwendig sind, damit die Luft ständig zirkulieren kann. Ohne die Ventilatoren würde zum Beispiel das von einem/r Astronauten/in im Schlaf ausgeatmete Kohlendioxid nicht gleichmäßig verteilt werden und seinen oder ihren Kopf wie eine große Blase umgeben.)

Die Schutzgitter vor den Ventilatoren sind auch Endstation für viele Gegenstände, die uns abhandengekommen sind und früher oder später dort ihren Irrflug beenden. So konnte ich übrigens auch meine verlorene Diskette wieder einfangen.

Der Stuhl-Gang

Nach dem Gang zur Toilette fragt wirklich jeder! In Weltraumtoiletten werden die Exkremente mit einer Luftpumpe abgesaugt - laut aber gründlich! Und natürlich besteht absolute Anschnallpflicht! Leider gibt es keine Dusche an Bord, für die Körperpflege benutzen wir also nur feuchte Tücher und Schwämme mit schaumfreier Seife.

(Das Wasser an Bord der ISS wird zuerst der Luft entzogen, kondensiert und so oft wie möglich wiederaufbereitet. Dieser Vorgang ist unbedingt erforderlich, damit sich ja nirgends Wassertröpfchen bilden können. Trinkwasser muss genau wie Nahrung, Sauerstoff zum Atmen und sonstige Ausrüstung von der Erde heraufgebracht werden.)

Warum wird man Astronaut?

Auf die Frage, warum man Astronaut wird, reagieren die meisten Astronauten ganz verdutzt. Warum erlernen Menschen einen bestimmten Beruf? Die Erfahrung mit der Schwerelosigkeit hat ihren ganz besonderen Reiz. Man ist stolz, einen wirklich anspruchsvollen Job ausüben zu können, eine Chance bekommen zu haben, die nur ganz wenige Menschen auf der Welt bekommen - dafür lohnt sich der Einsatz! Und der Blick von dort oben ist einfach unvergleichlich!

Ein paar Minuten aus einem der Bullaugen ins All zu schauen, das ist die liebste Freizeitbeschäftigung, die, glaube ich, jeder Astronaut genießt, wann immer er sich ein paar freie Minuten gönnen kann. Ich meine damit nicht, ins endlose schwarze Nichts zu starren, sondern die Erde zu beobachten, zumindest zu etwa 90 Prozent der Zeit. Sie verändert sich ständig, offenbart jedes Mal neue Facetten und erscheint jedes Mal noch schöner!

© Esa/sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: