Erdbeben:Stille Stöße aus der Tiefe

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Normalerweise bebt die Erde, wenn der Druck zwischen zwei Erdplatten zu groß wird. Doch manche Spannungen entladen sich unbemerkt. Das erschwert Risikovorhersagen.

Axel Bojanowski

Im Sommer 1999 bebte die Erde an der nordamerikanischen Westküste zwischen Vancouver und Seattle. Die freigesetzte Energie hätte ausgereicht, um die Städte zu zerstören, denn sie entsprach einem Erdbeben der Stärke 6,7. Ein solch hoher Wert wird weltweit nur selten erreicht. Doch jenes Erdbeben von vor acht Jahren ließ nicht einmal die Kaffeetassen klirren.

An einem 200 Kilometer langen Abschnitt der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien wackelt der Erdboden nicht, er kriecht. Dabei entlädt sich jedoch ähnlich viel Energie wie bei massiven Erdbeben. (Foto: Foto: oh)

Die Bewohner der Region spürten nicht einmal ein leichtes Zittern. Erst Monate später stellten Wissenschaftler fest, dass sich überhaupt ein Erbeben ereignet hatte. GPS-Navigationssatelliten hatten registriert, dass sich eine Erdplatte auf 15.000 Quadratkilometer Fläche um zwei Zentimeter verschoben hatte. Seitdem haben Geologen mehrere solcher "stillen Erdbeben" aufgespürt, und nun gibt es auch Erkenntnisse über die Ursache.

Normalerweise bebt die Erde, wenn der Druck zwischen zwei Erdplatten zu groß wird und das Gestein ruckartig bricht. Bei stillen Erdbeben hingegen löst sich die Spannung nicht auf einen Schlag - das Beben in Kanada und den USA dauerte vom 18. August bis zum 22. September 1999.

Die Erdplatten gleiten nahezu reibungslos aneinander vorbei. Dabei kann sich so viel Gestein bewegen wie bei einem Starkbeben. Es verschiebt sich allerdings so langsam, dass keine Erschütterungswellen ausgelöst werden. Ein stilles Erdbeben kann Monate dauern, wie Seismologen um Kristine Larson von der University of Colorado festgestellt haben ( Geophysical Research Letters, Bd. 34, S. L13309, 2007). Larson hatte in Mexiko per GPS ein stilles Beben gemessen, das von April bis Dezember 2006 dauerte und die Energie eines Starkbebens der Stärke 7,5 freisetzte.

Unmerkliches Trommeln

In Costa Rica, wo sich ebenfalls zwei Erdplatten übereinander schieben, haben Geophysiker der Universität Kiel GPS-Sender und Erschütterungssensoren installiert. Auch die Forscher um Wolfgang Rabbel registrierten zu ihrer Überraschung die ominösen Kriechbewegungen des Bodens. Im Gegensatz zur amerikanischen Westküste senden die stillen Beben in Costa Rica allerdings seismische Signale aus, ein unmerkliches Trommeln, "Tremor" genannt.

Das überraschte die Experten, denn Tremor - so glaubte man - gibt es eigentlich nur unter Vulkanen. Doch Seismologen um David Shelly bestätigten kürzlich den merkwürdigen Befund: Stille Beben könnten von Tremor begleitet werden. Die Forscher hatten eine unter Südjapan kriechende Erdplatte vermessen.

Unter Vulkanen versetzen strömendes Magma und heißes Grundwasser die Erde in Tremor-Schwingungen. Deshalb vermutet Rabbel, dass auch stille Erdbeben von Wasser ausgelöst werden. Vermutlich presst der hohe Druck in der Tiefe Wasser aus dem Gestein. Das Wasser wirke als Schmiermittel für Erdplatten und könne deshalb stille Beben auslösen, vermuten die Geologen. Die Felsschollen gleiten leichter aneinander vorbei. Die These vertreten auch Heidi Houston und John Vidale von der Universität Washington ( Nature, Bd. 447, S. 49, 2007).

Mit Talk geschmiert

Eine der gefährlichsten Erdbebenlinien der Welt durchzieht bekanntlich Kalifornien - die San-Andreas-Verwerfung. Dass Erdplatten ohne Beben aneinander vorbeischrammen können, lässt sich dort seit fast 50 Jahren beobachten. Bis vor kurzem war jedoch unbekannt, dass sich die Kriechbewegung in Schüben - als stille Erdbeben - vollziehen kann. An der kalifornischen Gesteinsnarbe schieben sich die Pazifische und die Nordamerikanische Erdplatte aneinander vorbei. Ständig erschüttern Erdbeben den US-Staat mit seinen Metropolen Los Angeles und San Francisco.

Auf einem 200 Kilometer langen Abschnitt der Gesteinsnaht südlich der Stadt San Juan Bautista jedoch bebt es nicht, obwohl sich beide Erdplatten dort mit stolzen drei Zentimetern pro Jahr aneinander vorbei bewegen. Das Kriechsegment der San-Andreas-Verwerfung wurde 1960 entdeckt, als man einen 1948 gebauten Abwasserkanal zerrissen und beide Seiten um 30 Zentimeter versetzt vorfand.

Nun hat eine an der Schnittstelle beider Platten in den Boden getriebene Bohrung offenbar die Ursache des Kriechens zu Tage befördert. Aus 3000 Meter Tiefe bargen Diane Moore und Michael Rymer vom Geologischen Dienst der USA eine Substanz, die offenbar als Schmiermittel zwischen den Platten dient: Talk, das weichste natürliche Mineral. Es entsteht wahrscheinlich in der Tiefe aus anderen Mineralien, die sich unter hohem Druck mit Wasser mischen.

Erdbeben an gut geschmierten Erdplatten wie in Kalifornien verlaufen nicht einfach nur langsamer als normale Beben. Die Kriechbewegungen folgen auch sonst eigenen Gesetzen, berichteten Forscher um Satoshi Ide von der Universität Tokio kürzlich in Nature.

Sensationelle Entdeckung

Die Entdeckung dieses neuen Naturgesetzes gilt unter Seismologen als Sensation: Unabhängig davon, wo und unter welchen Umständen - ob mit oder ohne Tremor beispielsweise - sich die stillen Beben ereignen, können sie mit derselben mathematischen Formel beschrieben werden, entdeckten Ide und seine Kollegen. Das Gesetz unterscheide sich von jenem normaler Erdstöße. Stille Beben bilden daher eine eigene Klasse.

Nun müssten die Erdbeben-Gefahrenkarten korrigiert werden, meint der Seismologe Peter Cervelli vom Forschungszentrum in Hawaii. Manche Regionen wie etwa Südjapan, wo die Bewohner seit Jahrzehnten ein Starkbeben erwarten, seien gar nicht bedroht, weil sich die Gesteinsspannung bei stillen Beben abbaue.

In anderen Regionen könnten stille Erdbeben das Risiko eines Starkbebens hingegen erhöhen, meinen Heidi Houston und John Vidale. Die unmerkliche Verschiebung erhöhe die Spannung der Erdplatten anderswo. Das gelte auch für die nordamerikanische Westküste, sagt Herb Dragert vom Kanadischen Geologischen Dienst. Das stille Beben vom Sommer 1999 habe ein Starkbeben in der Region wahrscheinlicher gemacht - Vancouver und Seattle seien gewarnt.

© SZ vom 12.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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