Erdbeben in China:Der tödliche Stausee

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80.000 Menschen starben 2008 bei einem Erdbeben in Südchina. Nun äußern Experen den Verdacht, dass ein neuer Stausee die verheerenden Erdstöße ausgelöst hat.

Axel Bojanowski

Die Geschichte klingt wie ein Science-Fiction-Thriller. Ingenieure bauen einen Damm, um Wasser in einem Tal zu stauen. Die Wassermasse lässt die Erde erzittern; zunächst unmerklich. Doch das Grollen wird stärker.

Bei dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 in der südchinesischen Provinz Sichuan starben etwa 80.000 Menschen. Zehntausende Häuser stürzten ein, als die Erschütterungen die Energie von 700 Millionen Tonnen TNT-Sprengstoff freisetzten. (Foto: Foto: dpa)

Auf einmal zerreißt der Boden unter gewaltigem Donner. Zehntausende Gebäude stürzen ein, ganze Großstädte werden zerstört. In China ist offenbar genau das geschehen: Das katastrophale Erdbeben in Südchina am 12. Mai 2008, bei dem 80.000 Menschen starben und Hunderttausende schwer verletzt wurden, ist vermutlich von einem künstlichen Stausee ausgelöst worden. Wurde die Naturkatastrophe also von Menschenhand verursacht?

Am Nachmittag des 12. Mai um halb drei Uhr Ortszeit brach der Untergrund der südchinesischen Provinz Sichuan auf einer Länge von rund 250 Kilometern.

Zehn Kilometer unter der Großstadt Jiangyou wurden Millionen Tonnen Gestein binnen Sekunden bis zu neun Meter gegeneinander verschoben. Das Erdbeben der Stärke 7,9 setzte die Energie von 700 Millionen Tonnen TNT-Sprengstoff frei. In der Nähe des Bebenzentrums blieb kaum ein Stein auf dem anderen. 90Kilometer weiter in der Stadt Chengdu mit vier Millionen Einwohnern krachten Tausende Gebäude zusammen.

Die meisten Erdbeben ereignen sich dort, wo Erdplatten zusammenstoßen. China liegt zwar abseits der Kollisionsfronten. Doch südwestlich des Landes schiebt sich die Indische Erdplatte mit einem Millimeter pro Woche wie ein Sporn in den Eurasischen Kontinent hinein. Der größte interkontinentale Crash des Planeten setzt auch die Region nördlich des Himalajas unter Spannung.

Zersprungen wie eine Glasscheibe

In Südchina ist der Untergrund deshalb zersprungen wie eine Glasscheibe. Die Gesteinsnähte spalten die gesamte Erdkruste bis hinunter an den Erdmantel. Der Druck aus Süden verschiebt die kilometerdicken Blöcke entlang der Fugen. Dabei staut sich Spannung, die sich regelmäßig bei Erdbeben abbaut.

In Sichuan verschieben sich die Gesteinspakete allerdings äußerst langsam, so dass es nur alle paar tausend Jahre heftig bebt. So waren Seismologen von dem Starkbeben im vergangenen Mai überrascht, sie hätten eigentlich noch viele Jahre Ruhe erwartet.

Es scheint, als hätten Menschen die "Erdbeben-Uhr" manipuliert: Im Dezember 2004 begannen Ingenieure mit dem Befüllen des Zipingpu-Stausees, der ein Wasserkraftwerk antreiben sollte. Sie hatten beim Bau ignoriert, dass in der Nähe eine spannungsgeladene Gesteinsnaht den Untergrund durchzieht. Tag für Tag ergossen sich Tonnen von Wasser ins Tal.

Nach zwei Jahren hatte der See einen Pegel von 120 Metern - ein Gewicht von 320 Millionen Tonnen lastete auf dem fragilen Untergrund. Das Gestein entlang des Bruches nahe dem Stausee geriet verstärkt unter Druck. Die Spannung im Untergrund habe sich in den gut zwei Jahren 25-mal so stark erhöht wie normalerweise, berichtet der Seismologe Christian Klose von der Columbia University in den USA.

Klose will in Kürze seine Studie veröffentlichen, hält sich jedoch mit Urteilen zurück. Das Wort "Staudamm" meidet er: "Es geht darum, die Prozesse zu verstehen, nicht wer was verursacht hat." Die Tragweite einer Studie, die den Staudamm ausdrücklich verantwortlich machen würde, ist allen Forschern bewusst. Ansonsten spricht Kloses Analyse eine deutliche Sprache.

Nach dem Staudamm-Bau bewegte sich das Gestein entlang der Erdbebennaht Millimeter für Millimeter auf die Katastrophe zu. Der höhere Druck habe die Reibung der Gesteinsblöcke an der Naht vermindert. Zugleich erhöhte sich die Spannung zwischen beiden Seiten des Bruches. Am 12. Mai 2008 hielt das Gestein dem Druck nicht mehr stand und brach.

Die Blöcke seien in jene Richtung geruckt, in die der Druck-Anstieg der vergangenen zwei Jahre sie gedrängt hatte, sagt Klose. "Die Wassermassen haben die Störzone destabilisiert." Der Stausee habe das "lokale Erdbebengeschehen klar beeinflusst", bestätigen etwas nebulös Geophysiker um Lei Xinglin von der chinesischen Erdbeben-Behörde im Fachblatt Geology and Seismology.

Einen Beleg für die These erkennt Klose auch in jenen Gesteinsnähten, die dem Beben standhielten. Ein Gesteinsbruch direkt unterhalb des Sees etwa bewegte sich nicht. Die Wassermassen hätten ihn "geschlossen und zusammengedrückt". Bei einem normalen Beben wäre auch diese Naht in Mitleidenschaft gezogen worden.

Verräterische Signale

Der Untergrund sendete weitere verräterische Signale. Nach einem Starkbeben erschüttern Tausende Nachbeben das Land. In China jedoch war es etwas anders: Um den See herum sei es seltsamerweise ruhig geblieben, berichtet Klose. Das sei ein Hinweis für den immensen Druck der Wasserauflast.

Das Beben ereignete sich, als der Seepegel bereits wieder fiel; ein Teil des Wassers war abgelassen worden. In der Woche vor dem Beben sank der Pegel schneller denn je. Die plötzliche Entlastung habe das Beben womöglich noch verstärkt, sagt Klose. Die Spannung im Untergrund habe sich dadurch noch effektiver abbauen können.

Schon mehrfach haben Stauseen den Boden erzittern lassen. Nachdem der Hoover-Dam im US-Bundesstaat Nevada 1939 fertig gestellt war, der den Colorado-Fluss staute, kam die Region nicht mehr zur Ruhe - mehr als 600 Beben erschütterten sie. 1967 ließ das gewaltige Wasserreservoir hinter dem Koyna-Staudamm in Indien die Erde wackeln. Mehr als 200 Menschen starben.

Ob die chinesische Regierung die Katastrophe von Sichuan 2008 ebenfalls als menschengemacht bestätigen wird, erscheint ungewiss. Daten über Mikrobeben nahe des Stausees werden nicht herausgegeben. So müssen Seismologen einstweilen den letzten Beweis schuldig bleiben.

© SZ vom 24.01.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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