Entwicklung von Fischbeständen um Hawaii:Forschung à la carte

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Historische Speisekarten, alte Fotografien und die Reisetagebücher von Piraten: Wissenschaftler nutzen ungewöhnliche Quellen, um die Entwicklung von Fischbeständen zu analysieren.

Andrea Hoferichter

Am 8. Januar 1928 stand im Moana Hotel am Waikiki Beach von Hawaii "Gebackene Großkopfmeeräsche in Ti-Blättern an geraspelter Kokosnuss mit Strauchkartoffeln" auf der Speisekarte. Für Liebhaber von Fischgerichten mag das verlockend klingen, Kyle Van Houtan dagegen würde dieses Meerestier nicht anrühren.

Dennoch interessiert es ihn, den Leiter des staatlichen Schutzprogramms für Meeresschildkröten am Pacific Islands Fisheries Science Center in Honolulu und Assistenzprofessor der amerikanischen Duke University in Durham, welches Restaurant zu welcher Zeit welchen Fisch anpries. "Großkopfmeeräschen gehören zu den Fischarten, deren Bestände im letzten Jahrhundert extrem zurückgegangen und seit den Siebzigern auf praktisch keiner Speisekarte hawaiianischer Restaurants mehr zu finden sind", sagt er.

Gemeinsam mit Loren McClenachan vom Colby College in Maine und John Kittinger von der Stanford University in Kalifornien hat er 376 Speisekarten aus 154 Restaurants analysiert und daraus den Rückgang historischer Fischbestände rekonstruiert.

Drastischer Rückgang zwischen 102 und 1948

Die künstlerisch bis kitschig gestalteten Karten, alle aus dem 20. Jahrhundert und abgesehen von ein paar Fett- und Kaffeeflecken noch sehr gut erhalten, hat der Wissenschaftler bei Kindern und Enkeln von Kreuzfahrttouristen und bei Sammlern aufgetrieben. Er hat Garagen, Büchereiarchive und Museen durchforstet und auch bei Ebay mitgesteigert.

"Eigentlich war ich auf der Suche nach Speisekarten mit Meeresschildkrötengerichten", erzählt er. Sie sollten illustrieren, dass die Reptilien durch zunehmenden Tourismus vom Aussterben bedroht sind. Doch schnell wurde Van Houtan klar, dass die Speisekarten auch als Datensatz für ein breiteres Forschungsthema taugen. "Wir konnten damit auf Änderungen von Fischbeständen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schließen und eine große Datenlücke füllen", sagt er.

Wie die Forscher im Fachmagazin Frontiers in Ecology berichten, existieren für die Jahre von 1902 bis 1948 keine Fangzahlen. Doch gerade in diesem Zeitraum sind die Fischbestände in küstennahen Gewässern und Korallenriffen offenbar drastisch geschrumpft.

"Pochierte Flunder Véronique" von den Menüs verschwunden

Stand die Großkopfmeeräsche in den 1930er-Jahren auf fast allen Speisekarten, war sie nur 20 Jahre später nicht einmal mehr auf jeder zehnten zu finden. In den 1970er-Jahren waren sowohl gebackene Großkopfmeeräsche, "Pochierte Flunder Véronique" oder "Roter Schnapper sauté Amandine" fast komplett von den Menüs hawaiianischer Restaurants verschwunden.

Stattdessen wurden vor allem Fische aus der Hochseefischerei serviert, Thun- oder Schwertfisch zum Beispiel. Deren Angebot war in der ersten Jahrhunderthälfte noch nahe null, nach 1970 standen sie auf neun von zehn Karten.

An veränderte Vorlieben der Restaurantbesucher glaubt Van Houtan nicht: "Rifffische zum Beispiel werden auch heute noch sehr gerne gegessen, aber sie sind eben nicht mehr in großen Mengen verfügbar." Er ist fest davon überzeugt, dass Überfischung der Hauptgrund für den Wandel des Speiseangebots war.

Um zu prüfen, wie aussagekräftig die Analyse der Speisekarten ist, haben die Wissenschaftler ihre Daten für die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit Zahlen aus Landungsberichten verglichen. Sie stellten fest, dass die Menüpräsenz plausibel den steilen Fall der Bestände beschreibt. Für die Rifffische zum Beispiel waren Anfang des 20. Jahrhunderts noch rund 600 Tonnen Fänge dokumentiert, für das Jahr 1950 nur noch 150 Tonnen und 1970 nur etwa 20 Tonnen. Ähnlich steil sank das Angebot auf den Speisekarten.

Bei der Auswertung half, dass die Restaurants täglich eine neue, mit Datum versehene Karte herausgegeben hatten. Auch dass Hawaii so abgeschieden liegt, vereinfachte Van Houtan zufolge das Prozedere. "Bis Mitte des letzten Jahrhunderts stammte praktisch alles, was dort gegessen wurde, aus der Region", erklärt er. Das änderte sich nach 1959, als Hawaii zum Bundesstaat der USA wurde. Hummer aus dem Nordatlantik eroberte schnell einen festen Platz auf den Tagesmenüs des Inselstaats.

Als Nächstes will das Forscherteam den Datenpool erweitern. "Wir haben unter anderem Kontakt zu einem Sammler, der weitere 800 Speisekarten zur Verfügung stellt", freut sich Van Houtan. Außerdem wollen sie die Preise genauer analysieren. Denkbar wäre, dass die Fische immer teurer wurden, bevor sie von den Speisekarten verschwanden.

"Es ist nicht das erste Mal, dass Speisekarten für solche Zwecke genutzt werden", sagt Poul Holm vom Trinity College Dublin in Irland. Im Buch "Oceans Past: Management Insights from the History of Marine Animal Populations", das er mitherausgegeben hat, berichtet Glenn Jones von der Texas A&M University von einem solchen Projekt. Er analysierte schon vor acht Jahren etwa 10 000 Speisekarten, die zum größten Teil aus öffentlichen Büchereien in New York und San Francisco stammten.

Seine Ergebnisse dokumentieren einen Trend, den englischsprachige Meeresforscher "Fishing down the Food Web" nennen und demzufolge zunächst die Spitze der Nahrungskette, also große Raubfische, gefangen werden, bevor zunehmend kleinere Arten auf den Teller kommen.

Aus Mangel an offiziellen Fangstatistiken haben Meeresforscher aber nicht nur kulinarische, sondern auch weitere ungewöhnliche Quellen erschlossen, darunter Zeitungsartikel, Mosaiken, Gemälde und Fotografien. Van Houtans Co-Autorin Loren McClenachan etwa analysierte während ihrer Doktorarbeit mehr als 1000 jahrzehntealte Schwarz-Weiß-Fotos aus einer öffentlichen Bücherei in Key West, Florida.

Zu sehen sind Sportfischer mit den jeweils größten Fängen des Tages, die Fische zum Längenvergleich nebeneinander an ein Seil gehängt. Der stolze Gesichtsausdruck der Sportfischer blieb über die Jahrzehnte gleich, doch die Trophäen wurden immer kleiner. "Die Fotos liefern keine direkte Messung, zeigen aber deutlich, dass große Fische in der Vergangenheit viel häufiger waren", betont die Forscherin.

Wie sie vor vier Jahren unter anderem im Fachblatt Conservation Biology berichtete, wurden noch in den 1950er-Jahren Haie und andere große Raubfische mit fast zwei Metern Länge gefangen. Zum Zeitpunkt der Untersuchungen lag der Durchschnitt bei nur 34 Zentimetern. Nach ihrer Promotion wertete McClenachan weitere, noch exotischere Quellen aus, um Fischbeständen in der Karibik auf die Spur zu kommen, und durchforstete jahrhundertealte Reisetagebücher. Eines war von einem Piraten geschrieben worden.

So faszinierend diese Art Wissenschaft auch klingen mag, ist doch Vorsicht geboten. Was etwa Speisekarten als Datenquellen betrifft, warnt selbst Van Houtan vor voreiligen Schlüssen: "Die Karten als einzige Quelle helfen nicht wirklich weiter. Auch Fischereimethoden, kulturelle, marktwirtschaftliche und sozioökonomische Aspekte müssen berücksichtigt werden." Ein Beispiel dafür ist seine Suche nach Menüs mit Meeresschildkröten. Die Ausbeute fiel unerwartet mau aus. "Erst später habe ich erfahren, dass Schildkrötenfleisch vor allem auf Märkten über die Theken ging und dort unter freiem Himmel gegessen wurde", berichtet der Forscher.

© SZ vom 17.08.2013/sekr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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