Die alte Frau:Spätes Wiedersehen

Shankaramma wurde von ihrem Mann verstoßen, Lepra machte sie blind. Seit Jahrzehnten lebt sie in der Kolonie. Sie lacht viel, und die Kinder lieben ihre Geschichten. Und nach 20 Jahren sah sie sogar ihre Mutter wieder.

Text und Fotos Von Fabian Fiechter

Es ist früher Morgen und Shankaramma putzt ihr Häuschen. Zielstrebig sammelt sie Blätter auf. Mit den beiden Stümpfen, die von ihren Händen übrig geblieben sind, tastet sie über den Boden. Die Lepra hat sie schon vor langer Zeit blind gemacht, aber hier kennt sie jeden Stein. Sie versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, braucht aber dennoch Hilfe. Bis sie 20 war, gab es keine offenen Zeichen ihrer Krankheit. Sie wurde verheiratet und bekam zwei Kinder. Doch nach den Geburten begannen sich ihre Hände zu verformen, ihr Mann verstieß sie. "Wegen der Lepra nahmen sie mir mein zweites Baby weg, und weil es noch klein war und ich es nicht füttern konnte, starb es." Sie zog zu ihren Eltern, Nachbarn mieden die Nähe zu ihr. Eines Morgens verließ sie ihr Heim, ohne jemanden etwas zu sagen. Seit nunmehr 40 Jahren lebt sie in der Kolonie. "Hier gibt es keine Stigmatisierung und ich muss mich nicht um das Essen und mein Auskommen sorgen", sagt sie. Sie lacht viel, die Kinder lieben ihre Geschichten. Shankaramma sah ihre Familie 20 Jahre lang nicht, bis einer ihrer Brüder ebenfalls wegen der Infektion in die Kolonie zog. "An dem Tag, wo ich meine Mutter wiedersah, erkannte ich sie nicht, und sie erkannte mich auch nicht, weil ich so entstellt aussah." Shankaramma erinnert sich, dass ihre Mutter sie "Buddima" nannte: kleines Kind. Sie umarmten einander und weinten. "Sie dachte, dass ich tot sei. Dieser Tag ist eine wundervolle Erinnerung", sagt Shankaramma.

© SZ vom 10.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: