Der Ethiker:Dürfen wir uns für den Beruf ausbeuten?

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Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir für die Arbeit?. Der Philosoph Volker Gerhardt erklärt in SZ Wissen, inwieweit der Beruf das Selbstwertgefühl bestimmen sollte.

Die moderne Kulturkritik hat drei Etappen hinter sich: Mitte des 18. Jahrhunderts machte Rousseau der Zivilisation den Vorwurf, sie entfremde den Menschen von seinem natürlichen Ursprung. Mitte des 19. Jahrhunderts fürchtete Karl Marx, die mit dem Kapital verbundene Industrie werde immer mehr Menschen immer ärmer machen.

Wieviel Arbeitswille ist gesund? (Foto: Foto: dpa)

Keine siebzig Jahre später klagte Walther Rathenau die Technik an, sie mache sich den Menschen untertan. Rousseau hat eine Tatsache benannt, die sich nicht ändern lässt - es sei denn, wir wollten in einem Naturzustand leben, den es nie gegeben hat. Auf die von Marx gestellte soziale Frage hat der Sozialstaat eine Antwort gegeben, von der wir hoffen, dass sie eines Tages weltweit überzeugen kann.

Die von Rathenau beschriebene Einbindung des Menschen in die Technik dagegen ist eine historische Tendenz, die mit den ersten Werkzeugen begonnen hat: Die Abhängigkeit nimmt zu, je erfolgreicher der Mensch mit seinen eigenen Erfindungen ist. Jedes Gerät verlangt Anpassung von dem, der es sachgerecht gebrauchen will.

Offenkundig wird diese Tendenz, sobald es nicht nur um einfache Werkzeuge, sondern um Großgeräte wie Autos, Flugzeuge oder Computertomografen geht. Auf sie haben wir unser Verhalten einzustellen, sobald wir ihre Vorteile nutzen wollen. Zur Technik gehören überdies die unsere Lebensform bestimmenden Technologien, allen voran die Verkehrs-, Zahlungsund Informationssysteme.

Und niemand kann von der Ökonomie, einer der ältesten Technologien, unabhängig sein, selbst wenn er nur von der Hand in den Mund leben wollte. Die Technik bietet so viele Erleichterungen, dass Menschen die größten Opfer nicht scheuen, um in ihren Genuss zu gelangen.

Dazu gehören verlängerte Ausbildungsphasen, das ständige Umstellen auf wechselnde Anforderungen und ein unerbittliches Zeitdiktat. Fahrpläne, Produktionstermine und Kreditlinien, Öffnungs- und Sendezeiten, ja selbst Musik- oder Sportprogramme, die uns vom Berufsalltag entlasten, bedürfen einer Organisation, die Kompetenz und Effizienz erfordert.

Die Flexibilität der menschlichen Natur macht es möglich, selbst im Einsatz für die Organisation eine Herausforderung zu sehen, in der jemand seine eigenen Kräfte steigert. Hinzu kommt, dass man die Technik, obgleich sie von Bedürfnissen angetrieben ist und in allem den Naturgesetzen folgt, als ein Produkt menschlicher Freiheit betrachten muss.

Mehr noch: Die Technik, so bedrohlich sie nicht nur in ihren militärischen Potenzialen ist, hat eine Faszination, von der jeder berichten kann, der zum ersten Mal vor den Pyramiden steht oder auch auf dem Bildschirm die Untersuchung seines eigenes Herzens verfolgt. Doch die Begeisterung für die Technik und ihre Organisation sowie das Verlangen, in ihr ein Optimum zu leisten, bergen die Gefahr der Überforderung.

Kommen Karriereaussichten, Konkurrenzdruck oder gesteigerte Konsumerwartungen hinzu, kann schon bei jungen Menschen das auftreten, was inzwischen weltweit Burn-out-Syndrom genannt wird: Der Mensch ist "ausgebrannt"; beim Einsatz im technisch-ökonomischen System hat er seine Energien verbraucht.

Zunächst empfindet er Stress, unter dem mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in den Industrienationen leiden, dann folgt die völlige seelische und geistige Erschöpfung, die immer mehr Menschen in körperliche und seelische Krisen stürzt. Die Überforderung, die für die Krankheit ursächlich ist, erfolgt in der Regel nicht unter äußerem Zwang.

Philosoph Volker Gerhardt - der Ethiker. (Foto: Foto:)

Die Menschen setzen sich ihr selber aus. Sie haben die Regeln des Systems verinnerlicht, empfinden sogar Lust, im Takt der Organisation zu funktionieren, und scheitern somit - an sich selbst. Man könnte lange streiten, ob dieser Vorgang "Selbstausbeutung" genannt werden kann.

"Ausbeutung" hat einen politischen Sinn, der zumindest nicht in allen Fällen angemessen ist. "Selbstausbeutung" aber hat den Vorzug, dass sie die Zuständigkeit des Einzelnen zum Ausdruck bringt.

Wer ihr zum Opfer fällt, kann sich nicht auf das "System" herausreden. Er hat versäumt, auf die Grenzen seiner eigenen Leistungsfähigkeit zu achten. Die Kritik an Technik, Ökonomie und Zivilisation mag noch so berechtigt sein: Die Verantwortung für den Umgang mit den eigenen Kräften hat jeder selbst zu tragen. Vor dem Raubbau an sich selbst kann die Gesellschaft warnen; vermeiden muss ihn jeder selbst.

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