Debatte: Pro Fernsehen:Jetzt mal einschalten!

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Die bösen Folgen des Fernsehens sind allseits bekannt: Es macht dick, dumm und zappelig. Ist diese Kritik nicht arg einseitig? Neun Thesen, die zeigen, warum TV-Gucken nicht sooo schlecht ist.

TV macht schlau

Buchstaben und Zahlen lernen mit der Sesamstraße. (Foto: Foto: dpa)

Mit der Rikscha kam die "Sesamstraße" vor zwei Jahren nach Bangladesch. Seit der Erstausstrahlung 1969 in den USA verfolgt die Sendung das selbst erklärte Ziel, Kindern den Übergang in die Schule zu erleichtern.

Sie sollen Buchstaben und Zahlen kennenlernen und Spaß am Lernen entwickeln. In Bangladesch mit einer Analphabetenquote von 60 Prozent ist der Bedarf an Nachhilfe groß - und die Chance einmalig, die Wirkung des Fernsehens zu überprüfen: Lediglich 45 Prozent aller Familien besitzen ein TV-Gerät. So rollten Rikschas, ausgestattet mit Fernsehgeräten und Generatoren, auf die Dorfplätze.

Viele Kinder sahen zum ersten Mal in ihrem Leben fern: die auf Bangladesch zugeschnittene "Sisimpur".

In einer Untersuchung des Instituts "Associates for Community and Population Research", an der 10 000 Mütter und 7000 Kinder teilnahmen, wurden nach sieben Monaten die Kenntnisse der Fernsehneulinge mit denen der Kinder verglichen, die nicht zugeschaut hatten.

Das Ergebnis: Je regelmäßiger die Kinder "Sisimpur" gesehen hatten, desto besser konnten sie rechnen, lesen und schreiben, unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft. "Kinder nehmen in gut gemachten Fernsehsendungen nicht nur Fakten auf, sondern können auch das Lernen lernen", sagt Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen des Bayerischen Rundfunks.

Fernseh-Rat hilft Eltern

Nur wenige Menschen gehen zur Erziehungsberatung, aber Millionen schalten "Die Super Nanny" an. "Die Sendung senkt die Barriere zwischen Erziehungsprofis und beratungsbedürftigen Klienten", sagt Jürgen Grimm, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Wien.

Grimm hat "Super Nanny"-Sendungen in Deutschland, Österreich und England untersucht und festgestellt, dass diese keineswegs "sensationsgierige Sozialvoyeure" anziehen, sondern Zuschauer, die zwar unterhalten werden wollen, aber vor allem Orientierung suchen.

Eine Studie der Universität Manchester wies nach, dass die Erziehungsratschläge tatsächlich helfen können. Die Wissenschaftler hatten 500 Elternpaare befragt, die regelmäßig das englische Pendant "Driving Mum And Dad Mad" sahen.

Die Studienleiterin Rachel Calam sagt: "Zwölf Wochen nach der Serie berichtete ein Großteil der Eltern, dass sich sowohl das Verhalten der Kinder als auch ihr eigener Erziehungsstil verbessert habe."

TV-Helden fördern die Phantasie

Ist Wickie, der kleine Held mit den langen Haaren aus "Wickie und die starken Männer", ein Junge oder ein Mädchen? Kinder können sich darüber die Köpfe heiß reden. "Je nachdem, wie man die Figur füllt, kann man beides darin sehen", sagt Norbert Neuß, Medienpädagoge aus Holzminden.

Es sind solche Leerstellen in Fernsehbeiträgen, die seinen Untersuchungen zufolge die Fantasie anfachen - vorausgesetzt natürlich, die Kinder sitzen nicht permanent vor dem Bildschirm. "Lücken und mehrdeutige Szenen fordern den Zuschauer auf, sich bestimmte Dinge vorzustellen und die eigenen Bilder und Ideen einzubringen."

Typisch sei auch, dass Kinder das Gesehene nachspielen, kreativ weiterentwickeln und in ihren Alltag integrieren. "Wenn also Eltern und Pädagogen davon reden, dass Fernsehen die Fantasie töte, dann haben sie ihre eigenen Vorurteile im Kopf", sagt Neuß. "Eltern sollten mal überdenken, welche Rolle das Fernsehen in ihrer Kindheit gespielt hat."

Gemeinsam schauen verbindet

Wenn Kinder fernsehen, lautet die erste Empfehlung aller Medienpädagogen: Die Eltern sollten mindestens in Reichweite sein, besser aber noch mitschauen. "So bekommen die Kinder emotionale Unterstützung und können ihre Fragen loswerden", sagt Gert Müntefering, Vater der "Sendung mit der Maus". Seine Meinung: "Lieber schaut man gemeinsam ein schlechtes Programm an als allein ein gutes!"

Es bedeute den Kindern unglaublich viel, zusammen mit den Eltern zu lachen oder sich zu ärgern. Um die Eltern-Kind-Kommunikation zu verstärken, wurde für eine US-Vorschulsendung der sogenannte "Mummy Bar" (was sich etwa mit "Mutti-Untertitel" übersetzen lässt) entwickelt, der nun auch in Deutschland eingeführt werden soll: Ein Lauftext am unteren Bildschirmrand macht den Eltern Vorschläge, wie sie die Fernsehbilder kommentieren können.

Der Medienforscher Shalom M. Fisch aus New Jersey und andere haben festgestellt, dass diese Mutter-Untertitel tatsächlich die Gespräche fördern, wenn sich der Text auf die aktuelle Fernsehhandlung bezieht und die Eltern sich konkret äußern oder Anregungen geben wie: "Sie singen das ABC - willst du mitsingen?"

Hierzulande wird der Mummy Bar demnächst in der "Sendung mit dem Elefanten" (auf dem Kinderkanal Kika) starten.

Glotzen allein macht weder dumm noch aggressiv

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"Wenn man den Fokus nur auf den Fernsehkonsum legt, macht man einen Fehler", sagt Ingrid Paus-Hasebrink, Kommunikationswissenschaftlerin der Universität Salzburg.

Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin hat sie vor drei Jahren begonnen, die "Mediensozialisation bei Kindern aus sozial benachteiligten Milieus" zu untersuchen. Ein einmaliges Projekt: Zwanzig Familien werden über insgesamt zwölf Jahre intensiv begleitet, Anfang 2008 werden die Ergebnisse der ersten Untersuchungsphase veröffentlicht. Was sich aber bereits jetzt deutlich abzeichnet, sagt Ingrid Paus-Hasebrink: "Das Medienkonzept ist sehr unausgewogen."

Da behauptet eine Mutter, ihre Kinder sollten bestimmte Sendungen nicht sehen, aber dann sitzen sie doch davor. Die Wissenschaftlerin glaubt, dass es nicht ausreichen würde, Eltern und Kindern Hilfestellung beim Umgang mit Medien anzubieten, genauso wenig würde es nutzen, rigoros den Fernseher zu verbannen. "Die Familien brauchen vielmehr sozialpädagogische Hilfe. Der ungeregelte Fernsehkonsum ist ja nur ein Problem von vielen."

Tatsächlich gebe es sogar Situationen, in denen Fernsehen den Kindern zur Stabilisation diene: Etwa wenn die Mutter häufig wechselnde Partner hat, die Serienfiguren aber bleiben. Auch Stefan Aufenanger, Medienpädagoge der Universität Mainz, fordert eine differenziertere Sichtweise.

"Es stimmt zum Beispiel definitiv nicht, dass der Fernsehkonsum der Kinder seit Jahren immer mehr zunimmt." Laut "Media Perspektiven" schauen Kinder zwischen drei und 13 Jahren in Deutschland gleichbleibend seit 1990 etwa 95 Minuten am Tag fern - weitaus weniger als ihre Altersgenossen in vielen anderen Ländern.

In Südkorea zum Beispiel liege der Schnitt bei 148 Minuten - dennoch gehöre das Land zu den Gewinnern der Pisa-Studie, sagt Aufenanger. "Man kann also nicht generell sagen, dass mit steigendem Fernsehkonsum automatisch die Schulleistungen schlechter werden."

Träge Zuschauer inspirieren die Forscher

Ob der Turnschuh "Square Eyes" (Quadrat- Augen), den die Industriedesignerin Gillian Swan entwickelt hat, einmal Serienreife erlangen wird, ist unklar, aber die Idee ist einfach zu schön: Als Abschlussarbeit ihres Studiums an der Design-Universität Brunel in London hat Gillian Swan einen Schuh entwickelt, der Fernsehen nur als Gegenleistung für gelaufene Schritte zulässt.

"Square Eyes" soll Eltern helfen, ihre Kinder in Bewegung zu bringen. Sobald der Träger mit der Ferse auftritt, registriert ein Drucksensor in der Sohle einen Schritt, und ein zweiter Sensor gibt die Information an ein Empfangsgerät weiter, das dann den Fernseher für eine bestimmte Zeit freischaltet.

100 Schritte machen eine Minute TV. Bei ihrer Berechnung hat sich die Industriedesignerin auf die Empfehlungen britischer Gesundheitsexperten gestützt, die für Teenager täglich 12.000 Schritte und einen maximalen Fernsehkonsum von zwei Stunden empfehlen. Gillian Swan sagt, dass sie vor allem darauf geachtet habe, dass man den Schuh möglichst schwer manipulieren kann.

Filmfiguren bieten Orientierung

"Wir haben damals geglaubt, dass man mit dem Fernsehen die Menschheit bessern kann", hat Peter Kölsch, Redakteur der Pumucklsendung, einmal gesagt.

Das denkt heute niemand mehr. "Wer in Vorurteilen verhangen ist, wird sie durch das Fernsehen nicht verlieren", sagt der Leipziger Medienwissenschaftler Bernd Schorb. Aber es bestehe eine gute Chance, die zu erreichen, die in bestimmten Fragen noch nicht so entschieden sind.

Dann kann es etwas bewirken, dass zum Beispiel in der Daily Soap "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" nicht geraucht und, wie die Kommunikationswissenschaftlerin Stephanie Lücke herausfand, viel Obst gegessen wird. Auch eine interaktive Sendung kann Orientierung bieten, hat Schorb mit anderen herausgefunden.

Das Kika-Magazin "Kummerkasten" zum Beispiel ist gekoppelt an ein Internetangebot. Hier werden Fragen der jugendlichen Zuschauer beantwortet.

"Das ist nicht geeignet, wenn ein Kind ernsthafte Probleme hat, aber bei allgemeinen Fragen kann es sehr hilfreich sein", erklärt Schorb. Besonders, wenn Bezugspersonen fehlen, steige die Relevanz der Medien. Der Kummerkasten werde als vertrauenswürdiger Ansprechpartner empfunden. Noch ein Vorteil für den Anrufer: Er bleibt anonym.

Fernsehen hilft fernzusehen

Das kennt jeder: Der Fernseher ist an, und man möchte eigentlich etwas ganz anderes tun - schafft es aber nicht abzuschalten. Zu groß ist die Faszination der laufenden Bilder.

Da ist es nur verständlich, dass Kinder besondere Probleme damit haben, auf "aus" zu drücken. Die erste Voraussetzung dafür, dies zu lernen, ist: Das Kind darf fernsehen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Hackl hat untersucht, wie sich das Fernsehverhalten im Lauf des Lebens ändert und festgestellt, dass Erwachsene, die als Kinder gar nicht oder nur streng reglementiert fernsehen durften und deshalb auch keine Chance hatten, den Umgang mit dem TV zu trainieren, als 30- bis 40-Jährige oft völlig unkontrolliert fernsehen.

Manche müssen sogar den Fernseher aus der Wohnung verbannen, um dieses Problem zu lösen. Die Wissenschaftlerin folgert daraus, "dass es durchaus wichtig ist, Kinder einem mäßigen Fernsehkonsum auszusetzen." Das sei besser, als das Fernsehen vollständig zu verbieten.

Wie ein sinnvoller Fernsehalltag aussehen könnte, erklärt die Initiative "Schau hin", die vom Familienministerium und verschiedenen Fernsehsendern gefördert wird. "Schau hin!" hat "Zehn goldene Regeln zur Fernsehnutzung" aufgestellt.

Dazu gehört es unter anderem, mit dem Kind Vereinbarungen darüber zu treffen, wann, wie lange und was es gucken darf. Und auch für die Fernsehgewohnheiten der Eltern gibt es eine gute Empfehlung: Sie sollen ihr eigenes Medienverhalten überdenken und mit gutem Beispiel vorangehen

Fernsehen senkt das Schmerzempfinden

Als der Mediziner Carlo V. Bellieni die Schmerzempfindlichkeit von Kindern unter speziellen Bedingungen untersuchte, war er selbst überrascht. Bellieni und sein Team von der Universität Siena in Italien hatten Kinder bei der Blutabnahme in drei Gruppen unterteilt.

Die erste Gruppe wurde nicht abgelenkt, die zweite wurde während der Behandlung von den Müttern beruhigt, die dritte bekam einen Zeichentrickfilm zu sehen. "Wir vermuteten, dass der Trost der Mutter am wirkungsvollsten sein würde", sagt Carlo Bellieni.

Doch die Kinder spürten am wenigsten Schmerzen, wenn sie fernsahen. Die Wirkung war deutlich stärker als die der Beruhigung durch die Mutter. Diesen Eindruck bestätigten auch die befragten Mütter. Bellieni mutmaßt, dass die Mütter ihre eigenen Ängste nicht vor den Kindern verbergen konnten.

Die starke Wirkung des Fernsehens erklärt der Wissenschaftler mit der "Gate Control Theory", auf Deutsch: Kontrollschrankentheorie. Demnach funktioniert das Gehirn wie ein Filter, einige Reize lässt es durch, andere blockt es ab. Bellieni nennt das Beispiel eines Fußballspielers, der von einem Gegner getreten wird, während er mit dem Ball auf dem Weg zum Tor ist.

"Er wird den Tritt nicht spüren, weil sein Gehirn auf das Tor konzentriert ist und andere Reize nicht ins Bewusstsein vordringen lässt." Ähnlich verhalte es sich mit den Fernsehbildern, die das Gehirn so fesseln, dass der Schmerz weniger stark wahrgenommen wird. Bellienis Empfehlung lautet daher, dass der Fernseher seinen festen Platz in Kliniken bekommen sollte. Allerdings sollte nicht auf die Anwesenheit der Eltern verzichtet werden - sie geben den Kindern das Gefühl, nicht allein zu sein.

Der italienische Forscher glaubt, dass eine ähnliche Wirkung auch bei Erwachsenen hervorgerufen werden könnte, was eine frühere Untersuchung eines israelischen Forscherteams bestätigt. Matisyohu Weisenberg und andere hatten festgestellt, dass die Schmerzempfindlichkeit von Testpersonen eine halbe Stunde, nachdem sie Komödien gesehen hatten, deutlich verringert war.

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