Bildungsideal:Mensch statt Maschine

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Wilhelm von Humboldt war Sprachforscher, Wissenschaftler und Schulreformer. Er setzte sich für eine umfassende Bildung ein, die den Menschen im Blick hatte, nicht nur den Beruf. (Foto: Ken Welsh/imago images)

Wilhelm von Humboldt gestaltete das Bildungswesen im damaligen Preußen neu. Lange war sein allumfassender Ansatz für deutsche Universitäten maßgebend. Jetzt steht er infrage.

Von Carlos Collado Seidel

Humboldts Universität ist tot". Mit dieser Feststellung löste der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Jürgen Rüttgers, im Jahr 1997 einen Sturm der Entrüstung aus. Es waren die Jahre, in denen die Debatte um die Ziele der akademischen Ausbildung entbrannt war und zu einem Reformprozess führte, der nach der altehrwürdigen Universitätsstadt Bologna benannt wurde, als dort zwei Jahre später die Bildungsminister aus 29 Staaten den Beschluss fassten, ein einheitliches Hochschulsystem in Europa zu errichten. Der Satz wurde als Kampfansage an das mit Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) verbundene Bildungsideal aufgefasst, steht dieser doch mit der Gründung der Berliner Universität im Jahr 1809 für die Erfolgsgeschichte universitärer Bildung und Forschung in Deutschland.

Humboldts viel zitierter Leitgedanke lautet: "Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum anderen überzugehen."

Bei Humboldt stand damit nicht die Vorbereitung auf einen Beruf im Vordergrund. Ihm ging es um eine umfängliche Bildung und damit um die "Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen".

Bei der Modernisierung Preußens war die Bildung eine zentrale Säule

Dass der Gedanke des neuhumanistischen Bildungsideals Wurzeln schlagen konnte, lag an den Erfahrungen der verheerenden Niederlage Preußens gegen Napoleon im Jahr 1806 und der darauffolgenden Besatzungszeit. Das ständische Gesellschaftssystem war verkrustet und sollte im Geiste der Aufklärung grundlegend reformiert werden. Damit würde Preußen die epochalen Herausforderungen zukunftsweisend annehmen und an die Zeit als aufstrebende Macht in Europa anknüpfen. Im durch Karl August von Hardenberg und Karl Freiherr vom Stein angegangenen Reformwerk, zu dem die Bauernbefreiung, die Einführung der Gewerbefreiheit sowie der kommunalen Selbstverwaltung gehörten, war die Bildung eine der zentralen Säulen. Deren Stellenwert zeigt sich auch darin, dass die Universität im Prinz-Heinrich-Palais am Prachtboulevard Unter den Linden untergebracht wurde, in unmittelbarer Nähe zum königlichen Schloss als Herz des Reiches. "Der Staat muss durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat", erklärte damals König Friedrich Wilhelm III.

Humboldt gestaltete das Bildungswesen von den Elementarschulen aufwärts von Grund auf neu. Jeder, der über die notwendigen Fähigkeiten verfügte, sollte unabhängig von Herkunft und Stand fortan den Zugang zu Gymnasium und Universität haben. Die Universitäten verstand er als Ort des sich gegenseitig befruchtenden forschenden Austauschs zwischen Studierenden und Lehrenden. Das setzte nicht zuletzt die Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme und wirtschaftlichen Zwängen voraus. So forderte er eigene Güter für die Universität, um sich selbst zu finanzieren und dadurch die Unabhängigkeit zu sichern. Nur im freien, ergebnisoffenen, von Nützlichkeitserwägungen unabhängigen Spiel der Kräfte sei der Erkenntnisfortschritt gewährleistet.

Humboldts Bildungsideal stieß von Anbeginn auf Gegenkräfte. So brachten die restaurativen Bestrebungen nach dem Wiener Kongress von 1814 und 1815 sowie das Beharren im ständischen Denken den Impetus der Reformen zum Erliegen, auch was die universitäre Autonomie anbelangt. Die sich sozial abgrenzenden bürgerlichen Eliten wandten sich wiederum gegen den freien Zugang zu höherer Bildung. Sicherlich gewann die Universität auch erst allmählich an Strahlkraft, während zeitgleich auch andere Hochschulen wie in Jena oder Göttingen einen erfolgreichen Reformweg einschlugen. Die im Zuge der Industrialisierung aufstrebenden Naturwissenschaften bedingten wiederum die Gründung von Großforschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten, allen voran der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, womit das Postulat der Einheit von Forschung und Lehre in die Defensive geriet.

In der Rückschau stehen Humboldts Bildungsideal und sein Verständnis der Universität jedoch für ein 200 Jahre währendes Erfolgsmodell, das weltweit Nachahmer fand und die große Zeit der deutschen Wissenschaft markierte. Die 1949 nach Alexander und Wilhelm von Humboldt benannte Universität brachte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 29 Nobelpreisträger hervor.

Jeder sollte unabhängig von seiner Herkunft Schulen besuchen können

"Humboldt ist die Keule der Strukturkonservativen, die von denen herausgeholt wird, die nichts verändern wollen. Wir müssen ihn neu denken", beklagte dagegen die Bildungsministerin Annette Schavan Ende 2009. Und wenngleich das Ideal Humboldts unverändert in aller Munde ist und die Debatten über den Zweck universitärer Bildung nicht erst seit der Bologna-Reform geführt werden, hat in den vergangenen zwanzig Jahren ein dramatischer Prozess der Ökonomisierung von Forschung und Lehre begonnen, der den Grundprinzipien Humboldts zuwiderläuft.

So wird ein Paradigmenwechsel beklagt, indem die Bildung den Anforderungen der Wirtschaft unterworfen werde. Anwendungsorientierte Fachkenntnisse und eine möglichst rasche Berufsbefähigung gingen zulasten der Erfüllung des Auftrags einer Ausformung der Persönlichkeit. Die Bildungsrendite ist zur Zielgröße für das Hochschulmanagement geworden. Großkonzerne wie Alphabet, vormals Google, drängen wiederum machtvoller denn je lenkend die universitäre Forschung und werden dafür gefeiert. Die Einwerbung von Drittmitteln ist zur unabdingbaren Voraussetzung zur Aufrechterhaltung des Wissenschaftsbetriebs geworden.

All das mag den Wirtschaftsstandort und die Wettbewerbsfähigkeit stärken, und angesichts der Unterfinanzierung der Universitäten bei dramatisch gestiegenen Studierendenzahlen mögen eine solche Entwicklung und Neudefinition von Bildung als konsequent erscheinen. Gleichwohl beklagen Führungskräfte von Unternehmen die mangelnde geistige Reife und intellektuelle Flexibilität von Hochschulabsolventen und damit zugleich das Fehlen unerlässlicher Kompetenzen, um die Herausforderungen dynamischer Wirtschaftsprozesse kreativ und erfolgreich angehen zu können.

Vor allem aber gerät damit das unsere Gesellschaft definierende Ideal des mündigen Menschen in Gefahr. 1792 schrieb Humboldt über die Gefahren einer Unterwerfung des Menschen unter die Zwänge und Zwecke des Staates und den damit einhergehenden Verlust von Individualität, Vielfalt und Freiheit: "Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. (. . .) Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß er die Menschheit mißkennt und aus Menschen Maschinen machen will." Heute würde er das auch auf die Ökonomie beziehen.

© SZ vom 21.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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