Behandlung Sterbender:"Viele Ärzte sind unsicher"

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Der Mediziner Gian Domenico Borasio, leiter des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin der Universität München, über ungenutzte Chancen bei der Behandlung Sterbender.

Susanne Schäfer

SZ: Wie hilft die Palliativmedizin Menschen am Lebensende?

Gian Domenico Borasio (Foto: Foto: Stephan Rumpf)

Gian Domenico Borasio: Palliativmedizin bedeutet zum Teil, Schmerzen und andere belastende Symptome wie Atemnot zu lindern. Aber es reicht nicht, bei den Patienten nur die körperlichen Leiden zu behandeln. Deshalb ist die andere Hälfte unserer Arbeit die psychosoziale und spirituelle Begleitung. Für Sterbende ist es oft nicht das Wichtigste, wie sie selbst sterben, sondern wie es ihren Familien damit geht. Also helfen wir unseren Patienten auch, indem wir uns um ihre Angehörigen kümmern.

SZ: Wie gut werden die Möglichkeiten der Palliativmedizin bisher genutzt?

Borasio: Die Palliativmedizin hat sich in Deutschland in den letzten Jahren sehr gut entwickelt. In der Forschung haben wir allerdings noch viel nachzuholen. Zum Beispiel ist die Atemnot noch nicht gut untersucht, an der viele Sterbende leiden und die oft Panik auslöst. Und auch das, was wir sicher wissen, wird noch zu wenig umgesetzt. Die unbegründete Angst der Ärzte vor Morphin ist immer noch weit verbreitet. Kranke mit weit fortgeschrittener Demenz bekommen oft noch eine Magensonde gelegt, obwohl Studien klar gezeigt haben, dass diese Behandlung weder das Leben eines solchen Patienten verlängert noch seine Lebensqualität verbessert. Manchmal erreicht eine Behandlung, die eigentlich Leiden lindern soll, sogar das Gegenteil: Wenn man Sterbenden literweise Wasser in die Venen pumpt, obwohl der Körper in der Sterbephase kaum Wasser braucht, kann sich Flüssigkeit in der Lunge sammeln und Atemnot auslösen.

SZ: Woher kommt die Unsicherheit?

Borasio: In der Medizin gibt es eine Kultur des Handelns. Wir denken immer, dass wir irgendetwas machen müssen, um unserem Auftrag gerecht zu werden. Viele Ärzte sind auch unsicher in Bezug auf die Rechtslage und legen Patienten zum Beispiel Magensonden, weil sie Angst haben, dass ihnen sonst juristische Konsequenzen drohen. In Umfragen sagen bis zu 60 Prozent der Ärzte, dass sie Angst vor rechtlichen Konsequenzen haben, wenn sie lebensverlängernde Therapien abbrechen. Wenn aber ein Arzt einer Krankheit im letzten Stadium ihren natürlichen Lauf lässt, anstatt die Sterbephase zu verlängern, dann ist das nicht strafbar, sondern geboten. Die Unsicherheit betrifft übrigens nicht nur Ärzte: In einer Umfrage bei deutschen Vormundschaftsrichtern konnte über die Hälfte der Befragten nicht korrekt zwischen der erlaubten passiven und der verbotenen aktiven Sterbehilfe unterscheiden.

SZ: Was lehren Sie im Studienfach Palliativmedizin?

Borasio: Neben der Ausbildung in Schmerztherapie und Symptomlinderung vermitteln wir den Studenten rechtliche Aspekte, etwa über Patientenverfügungen. Seelsorger leiten Seminare zu spirituellen Fragen, und Psychologen sprechen mit den Studenten darüber, wie sie die Patienten begleiten. Die Studenten üben zum Beispiel in Rollenspielen, wie sie Patienten darüber aufklären, dass sie eine tödliche Krankheit haben. Dieser Moment ist für den Kranken einer der wichtigsten seines Lebens, und für Ärzte beginnt hier die Palliativmedizin.

SZ: Worauf sollte ein Arzt bei einem solchen Gespräch achten?

Borasio: Er sollte zuhören. Denn oft reden in dieser Situation nur die Ärzte, und die Patienten schalten schlimmstenfalls schon nach drei Sätzen ab, weil sie so schockiert sind. Viele Kranke wissen nach all den Untersuchungen schon ziemlich genau, was sie haben. Deshalb raten wir unseren Studenten, die Patienten selbst zu fragen: "Haben Sie schon eine Vorstellung davon, an was für einer Krankheit Sie leiden?" Dann kann der Patient das Gespräch steuern.

SZ: Kann eine bessere palliativmedizinische Versorgung die Debatte über aktive Sterbehilfe überflüssig machen?

Borasio: Nein, sicher nicht. Mit einer guten palliativmedizinischen Betreuung haben zwar deutlich weniger Patienten den Wunsch, frühzeitig zu sterben, aber es wird immer Patienten geben, die sich den Tod wünschen.Die Gesellschaft wird sich diesem Problem stellen müssen. Zunächst sollten wir aber sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu einer guten palliativmedizinischen Betreuung am Lebensende bekommen.

© SZ vom 25. April 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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