Bauen im Untergrund:Die Flut unter der Erde

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Vom Kino bis zum Kraftwerk: Metropolen verlegen immer mehr Bauten in den Untergrund, doch das macht sie anfälliger für Naturgefahren.

Von Axel Bojanowski

Katakomben, Grüfte, Kanäle - die Unterwelt vieler Großstädte ist unheimlich. Filme wie "Der dritte Mann" erzählen von Verbrechern, die sich zum Beispiel in den Untergrund von Wien flüchten.

Im September 2001 fegte ein Taifun über Tokio hinweg und drückte den Regen über Land. Die Wassermassen überschwemmten auch den Untergrund wie hier einen Straßentunnel am Flughafen Haneda. (Foto: Foto: AP)

Jetzt wittern Wissenschafter eine andere Gefahr: Die unterirdische Infrastruktur sei von Überflutungen bedroht, warnen Forscher der Universität der Vereinten Nationen (UNU) auf der UN-Konferenz zum Katastrophenschutz, die derzeit in der japanischen Stadt Kobe stattfindet.

Seit dem Mittelalter hat sich fast unbemerkt ein weites Netz aus Gängen unter den Städten ausgebreitet - zunächst meist Fluchtwege oder Kanalisation. Schon im 12. Jahrhundert arbeiteten sich in Paris die Steinbrecher in den Untergrund vor.

Engmaschiges Tunnelnetz

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann U-Bahn-Tunnel ins Erdreich getrieben. Hinzu kamen Wasserrohre, Druckluft- und später Stromleitungen. In Berlin und Paris schoss bis in die 1960er-Jahre Rohrpost durch ein engmaschiges Tunnelnetz. Nicht immer erwies sich der Tiefbau als gut geplant - in Berlin etwa gibt es heute schätzungsweise 70 blinde Röhren.

Schon Mitte des letzten Jahrhunderts wurde es langsam eng unter den Innenstädten, denn es galt, den knapper werdenden Raum in den "Oberstädten" nicht vollends zuzubauen. Straßen- und Bahntunnel, Parkplätze, Bahnhöfe, Lagerräume und neuerdings Kinos, Theater und Einkaufszentren füllten den Untergrund. Leitungen für Gas, Wasser, Telefon und Datenübertragung werden vermehrt in befahrbaren Tunneln untergebracht, um die Wartung zu erleichtern.

Manche Städte wie Montreal legen weite Teile ihrer City unter die Erde, damit das öffentliche Leben in den langen Wintern nicht kältebedingt stockt.

In Berlin wurden Teile des Stadtviertels Potsdamer Platz unter die Erdoberfläche gebaut. Die Versorgung des Quartiers verläuft ebenfalls unterirdisch über vierstöckige Zulieferstraßen, riesige Lagerhallen und ein eigens wegen des hohen Stromverbrauchs vor Ort in den Untergrund gelegtes Umspannwerk.

Andernorts in Berlin standen die Ingenieure vor ähnlichen Herausforderungen: Um die Stadt unterirdisch zu vernetzen, mussten Keller versetzt, Grundwasserschichten durchquert und Bunker zerstört werden - noch heute liegen mehrere hundert Bunker im Berliner Boden.

Ähnliche Leistungen wurden in Wien vollbracht: Wege für U-Bahn-Trassen oder Straßentunnel werden dort häufig von bis zu 15 Meter tiefen Kellern blockiert, die untereinander mit Gängen verbunden sind - Fluchtwege aus der Zeit der Türken-Belagerung im 16. Jahrhundert.

Der Nutzen der "Unterstädte" ist unbestritten. Auswärtiger Verkehr wird in vielen Städten schon an der Peripherie in Tunnel geleitet und taucht erst im Zentrum wieder auf. In den schnell wachsenden Metropolen Asiens oder Süd- und Mittelamerikas indes kommt man mit der unterirdischen Infrastruktur kaum hinterher.

Gebäuden und Straßen folgen erst Jahre später Kanalisation und U-Bahn. Die einfache Lösung, Straßenzüge für den Tiefbau aufzureißen, wurde meist voreilig verbaut. Stattdessen werden immer häufiger automatische Bohrer in den Untergrund geschickt, die sowohl dünne Röhren für Telefonleitungen als auch 15 Meter dicke Schneisen für Autotrassen graben können.

In Tokio unterqueren mehrstöckige Straßentunnel Wolkenkratzer in 40 Meter Tiefe, die U-Bahn in Moskau verkehrt sogar 50 Meter unter der Erde. Der Bau solcher Strecken ist auch deshalb schwierig, weil die Erkundung des Untergrundes in der städtischen Enge nur schwer möglich ist - Hindernisse kommen so meist überraschend.

In Deutschland entwickeln mehrere Maschinenbauer und Hochschulen im Rahmen des Bundesforschungsprogramms "Geotechnologien" Bohrer, die mittels Schallwellen das vor ihnen liegende Erdreich automatisch auskundschaften sollen.

Lebensfreundliche Unterwelt

Die Unterwelt der Großstädte wird in Zukunft noch tiefer ausgebaut und vielleicht doch lebensfreundlicher: Verspiegelte Rohre, die Sonnenlicht bündeln, beleuchten bereits manch unterirdisches Kaufhaus. Neben Straßen- und Bahntunneln könnten bald neue Transportnetze entstehen.

Der Bochumer Ingenieur Dietrich Stein schlägt eine Art großer Rohrpost vor: Güter, die bisher mit Lkw transportiert werden, sollen per "Cargo Cap" in Containern durch ein Tunnelnetz automatisch verschickt werden.

Doch wie steht es angesichts dieser Entwicklungen mit der Gefahr von Erdbeben? Für die Japaner ist sie sogar ein Grund, in die Tiefe zu gehen. In der Erde nämlich machen die Versorgungsleitungen die Schwingungen eines Bebens mit, während Oberleitungen häufig zerreißen. 160 Kilometer begehbarer Versorgungstunnel sollen in Tokio bis 2010 gebaut sein.

Doch "unten" muss nicht immer "sicherer" bedeuten: "Bei einem Erdbeben in Tokio oder Mexiko-Stadt sitzen Zehntausende in der U-Bahn fest, weil die Züge automatisch angehalten werden. Es besteht die Gefahr von Paniken", sagt Janos Bogardi von der UNU. Zudem seien unterirdische Bauten bei Erdbeben vom Einsturz bedroht. In Japan müssen daher Bestimmungen für erdbebensicheres Bauen eingehalten werden.

Zerstörerisch könnten auch gezielte Attacken gegen Glasfaserkabel wirken, gleichsam die Lebensadern der Informationsgesellschaft. Aus diesem Grund werden die am meisten verwundbaren Stellen des Datennetzes nicht veröffentlicht. In Bergbauregionen wie dem Ruhrgebiet sind plötzliche Einbrüche des Bodens keine Seltenheit, weil jahrhundertelang Kohle aus dem Untergrund geschachtet wurde. Etwa hundert solcher Tagesbrüche registrieren die Ämter jährlich im Revier.

Die eigentliche Bedrohung: Überflutungen

In London sorgen sich manche Experten, örtliche U-Bahn-Tunnel, immerhin die ältesten der Welt, könnte ein ähnliches Schicksal ereilen. Einstürze würden aber durch Renovierungen verhindert, meint Bogardi. Die eigentliche Bedrohung seien Überflutungen.

Allein in Tokio hat es in den Jahren 1999 bis 2001 17 Überflutungen gegeben, bei denen mehrfach Menschen zu Tode kamen. Ursache waren meist starke Regenfälle während der Monsunmonate. Wie Sturzbäche stürzten Wassermassen die Treppen der U-Bahn-Schächte hinunter. Auch in anderen Städten wurden wiederholt U-Bahn-Stationen, Tiefgaragen oder Lagerräume überschwemmt.

Bodenversiegelung und häufiger werdende Starkregenfälle steigerten auch hierzulande die Gefahr von Überflutungen, warnt Bogardi. U-Bahn-Betreiber deutscher Städte verneinen solche Gefahren.

Das regenreiche Tokio indes wappnet sich: Vor den Eingängen zu U-Bahnen oder Parkhäusern werden Dämme gebaut oder die Eingangsschächte erhöht. Auch andernorts hält Bogardi solche Maßnahmen für erforderlich.

Denn einbrechendes Wasser könne unterirdisch große Strecken zurücklegen und der Druck der Wassermassen sogar darüber stehende Gebäude einstürzen lassen: Unheimliches im Untergrund.

© SZ vom 20.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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