Arzneimitteltests:Nebenverdienst mit Todesangst

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Das Drama um die sechs Tester von Medikamenten, die in London mit dem Tod ringen, hätte auch in Deutschland passieren können.

Die deutschen Behörden, die für die Genehmigung von Arzneimitteltests zuständig sind, haben bei Pharmafirmen den Ruf, deutlich langsamer zu arbeiten als ihre Pendants in den USA und Großbritannien. Doch worüber sonst laut lamentiert wird, dürfte diesmal in Deutschland zu erleichterten Stoßseufzern geführt haben.

Zugleich ist das Entsetzen groß: Sechs Menschen liegen in Großbritannien nach einem missglückten Arzneimitteltest auf der Intensivstation. Zwei von ihnen, ein Engländer und ein Neuseeländer, sind völlig entstellt - und sie schwebten am Donnerstagabend noch immer in Lebensgefahr. Einige ihrer Organe hatten versagt, kurz nachdem ihnen testweise ein neuer Wirkstoff gespritzt worden war. Das gleiche hätte in Deutschland passieren können.

Wenn das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Langen nicht so langsam gewesen wäre. Am 17.Februar genehmigte die Behörde einen Antrag der Würzburger Biotechnologie-Firma Tegenero, den monoklonalen Antikörper TGN1412 an gesunden Menschen auszuprobieren.

Schnelle britische Behörden

Der entzündungshemmende Wirkstoff soll gegen Multiple Sklerose, Blutkrebs und chronisches Gelenkrheuma helfen. Das hatte die Firma zuvor an Primaten getestet. "An den Affen hat das Mittel kaum Nebenwirkungen gezeigt", sagt der Leiter des PEI, Johannes Löwer. "Deshalb haben wir einen solchen Test nach intensiver Diskussion erlaubt."

Doch die britischen Behörden waren schneller. Sie genehmigten das Experiment schon Ende Januar - drei Wochen zuvor. Deshalb startete der Versuch am Montag in der Londoner Northwick-Park-Klinik, durchgeführt von der US-Testfirma Parexel. Noch ist unklar, was schief gegangen ist. Inzwischen ermittelt Scotland Yard. Denn der Wirkstoff muss nicht zwingend schwer kalkulierbare Nebenwirkungen haben.

Er könnte auch falsch hergestellt oder verunreinigt worden sein. Oder Parexel hat sich in der Dosierung geirrt. Generell, so sagen Experten, kommen so starke Nebenwirkungen bei anfänglichen Tests an gesunden Menschen kaum vor. "In den letzten 15 Jahren sind nur zwei Todesfälle weltweit bekannt geworden", sagte ein Sprecher des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller.

Dies bestätigt Thomas Sudhop, Leiter des Wissenschaftlichen Services beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM: "Ein solch schlimmer Fall ist in den letzten zehn Jahren nicht passiert." Auch PEI-Chef Löwer rätselt: Die Affen hätten den Wirkstoff in sehr viel höherer Dosierung vertragen, sagt er. Doch das wirft erneut die Frage auf, inwieweit Ergebnisse aus Tierversuchen auf Menschen übertragbar sind.

Die Voraussetzungen, um aus Tierexperimenten vorhersehbare Resultate für Menschen zu erhalten, seien viel zu komplex und könnten nur im Einzelfall beurteilt werden, meint etwa Toni Lindl vom Institut für Zellkultur in München.

Generell wird eine potenzielle Arznei in drei Phasen am Menschen ausprobiert. PhaseI prüft Nebenwirkungen an gesunden Probanden - wie jetzt in London. Mittels Blut-, Urin- und Stuhluntersuchungen wird gecheckt, wie schnell die Versuchspersonen das Mittel wieder ausscheiden. PhaseII umfasst etwa 100 bis 500 erkrankte Patienten.

Neue Chance auf Heilung

Dabei prüfen Ärzte, ob der Wirkstoff die gewünschte Wirkung erzielt - und sie suchen die beste Dosierung. In Phase III wird schließlich an bis zu tausend Patienten geprüft, ob die potenzielle Arznei bei jedem gleich gut wirkt.

Gerade schwerkranke Patienten können von Phase II und III durchaus profitieren. Sie erhalten hier Zugang zur neuesten Therapie - und damit womöglich eine neue Chance zur Heilung. Zudem werden sie im Rahmen von Studien medizinisch so gut betreut wie sonst selten.

In Deutschland genehmigen sowohl BfArM als auch PEI die Phasen I bis III. Zusätzlich muss eine unabhängige Ethikkommission zustimmen, diese zweifache Absicherung gilt seit August 2004.

Das Studienaufkommen blieb in der vergangenen Jahren in Deutschland konstant. 2005 führten die Pharmafirmen mehr als 1300 Arzneimitteltests durch, davon gut ein Viertel in Phase I. Typischerweise umfasst die Testgruppe zehn bis 20 Personen.

In London bekamen sechs Versuchspersonen den Antikörper - und zwei von ihnen ein wirkungsloses Placebo. Die acht Personen seien nur die erste Kohorte einer größeren Versuchsgruppe gewesen, so das PEI. Alle sechs Probanden erhielten den Wirkstoff gleichzeitig.

Vielfach ist es üblich, potenziell giftige Arzneien zunächst nur einer oder zwei Personen zu verabreichen. Nun wird zu prüfen sein, inwieweit ein Stufenverfahren angebrachter gewesen wäre. "Eine erste Konsequenz wird sein, künftig nur mit einem Patienten anzufangen", sagt PEI-Chef Löwer.

Unter Umständen tödliches Zubrot

Die Haftung gehört in London zu den ungeklärten Fragen. "Üblicherweise beträgt die Entschädigung zwischen 500 und 1500 Euro pro stationärem Tag" sagt Thomas Sudhop vom BfArM. Für ihre Teilnahme an dem Test sollten die britischen Versuchspersonen insgesamt jeweils 2900 Euro erhalten. Davor hatten sie einen 16-seitigen Vertrag unterschrieben - in dem sie auf viele Haftungsansprüche verzichteten.

"Für jeden Patienten muss die Testfirma eine Art Unfallversicherung abschließen", sagt Sudhop. Doch die decke wenig ab. So gebe es im Invaliditäts- oder Todesfall maximal 500000 Euro, und ein Schmerzensgeld erhalte der Proband "nicht zwingend". Der Grund: Mit seiner Unterschrift unter den Vertrag nimmt er Kopfschmerzen, Erbrechen oder Schlimmeres in Kauf.

Trotzdem gelten unter Studenten, Arbeitslosen und auch vielen Osteuropäern die Tests als leicht verdientes Zubrot. Pharmafirmen und Ärzte sorgen sich nun, dass sie nicht mehr genügend Versuchspersonen finden. Schon heute ist das Anwerben für die riskanten Nebenjobs schwierig.

"Zunächst wird es sicherlich weniger Freiwillige gegen", sagt Löwer bedauernd. Das sei nicht gut für den medizinischen Fortschritt. So sollte das jetzt getestete TGN1412 unter anderem gegen Multiple Sklerose helfen, die bislang unheilbar ist. "Ohne Probanden", sagt Löwer, "gibt es keine neuen Arzneimittel."

© SZ vom 17.3.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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