Arzneimittelsicherheit:Gekritzel auf dem Rezept

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Etwa jeder dritte Behandlungsfehler in der hausärztlichen Versorgung geht auf Fehler bei der Arzneimitteltherapie zurück. Und auch im hektischen Klinikalltag geht einiges durcheinander.

Wiebke Rögener

Die alte Dame nahm ein Medikament, um ihren Cholesterinspiegel zu senken. Als sie wegen anderer Beschwerden ins Krankenhaus kam, erhielt sie die Arznei dort weiterhin - jedoch unter einem anderen Namen.

Nach der Entlassung stand sie dann mit zwei Pillen da, ohne zu ahnen, dass sie den gleichen Wirkstoff enthielten. Sie schluckte beide, kollabierte infolge der doppelten Dosis und brach sich dabei die Hüfte. Solche Geschichten wurden in der vergangen Woche bei einer Konferenz zur Arzneimittelsicherheit im Bonner Bundeshaus viele erzählt.

Nach Angaben des Aktionsbündnisses Patientensicherheit geht etwa jeder dritte Behandlungsfehler in der hausärztlichen Versorgung auf einen Fehler bei der Arzneimitteltherapie zurück. Ein bis zwei Prozent aller Krankenhauspatienten kommen wegen eines Medikationsfehlers in die Klinik.

Auch dort passieren Fehler: Da verwechseln Ärzte oder Pflegepersonal Medikamente, weil sie ähnliche Namen haben oder in ähnlichen Verpackungen stecken. Auch Milligramm und Mikrogramm bringt mancher im hektischen Klinikalltag durcheinander. Manchmal interpretiert auch der Apotheker die Kritzelei auf einem Rezept falsch - etwa acht Prozent aller Rezepte sollen unleserlich oder unvollständig sein.

"Wenn bei der Verabreichung von Medikamenten etwas schief geht, ist etwa in der Hälfte aller Fälle ein solch scheinbar trivialer Fehler die Ursache", schätzt Matthias Schrappe von der Universitätsklinik Frankfurt.

Der Internist ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Beurteilung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Die übrigen Probleme gingen auf mangelndes Wissen zurück: Weil etwa Nebenwirkungen neuer Mittel erst unzureichend bekannt sind, oder weil oft unklar ist, wie mehrere Medikamente zusammenwirken.

Auch gebe es in Deutschland zu wenig Studien dazu, welche Probleme mit Arzneien nach der Zulassung im Alltag auftreten, sagt Schrappe.

Auch mal den Patienten fragen

Immer mehr Zwischenfälle mit Arzneimitteln werden gemeldet. Ob sie tatsächlich häufiger werden, ist allerdings unklar. "Zumindest ein Teil des Anstiegs geht auf die erhöhte Wachsamkeit zurück", hofft Schrappe. Es gebe aber auch Hinweise, dass neuere Arzneimittel, die so genannten Biologicals, mehr Nebenwirkungen hätten als herkömmliche Präparate.

Wie oft es in Deutschland vorkommt, dass Medikamente mehr schaden als nützen, weiß niemand so genau. Aus den USA und Großbritannien ist bekannt, dass mehr Patienten an unerwünschten Arzneimittelwirkungen sterben als bei Autounfällen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Lage in Deutschland besser ist.

Das Bundesgesundheitsministerium legte jetzt einen Aktionsplan vor, der die Sicherheit von Arzneimitteltherapien verbessern soll. Patienten sollen besser über Risiken informiert und in die Entscheidung über Medikamente einbezogen werden.

Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut sollen ihre Datenbanken zu Nebenwirkungen transparenter machen und von 2008 an ein Bulletin zu aktuellen Risikoentwicklungen herausgeben. Die "Rote-Hand-Briefe" mit denen die Pharmaindustrie Ärzte warnt, wenn akute Problem mit einem Medikament auftreten, werden künftig im Internet nachzulesen sein. "Welche Effekte diese Maßnahmen haben, muss sich erst noch zeigen", sagt Schrappe.

55.000 zugelassene Arzneimittel mit 12.000 Wirkstoffen sind auf dem deutschen Markt - niemand kann da die Wirkung aller denkbaren Kombinationen kennen . "Es existiert keine Datenbank, die alle bekannten Wechselwirkungen erfasst", sagt die Pharmazeutin Cornelia Vetter-Kerkhoff vom Klinikum Großhadern der Universität München.

Wenn Ärzte beim Arzneimittelinformationsservice der Klinikapotheke anfragen, ob eine geplante Kombination von Medikamenten Probleme bereiten könnte, forscht sie in einem halben Dutzend Datenbanken nach Hinweisen. "Besonders problematisch ist das bei Medikamenten, die nur in Deutschland zugelassen sind", sagt Vetter-Kerkhoff. Denn über diese lägen nur wenig Informationen vor.

Ärzte, die einen älteren Patienten mit mehren Erkrankungen so behandeln, wie es die jeweiligen Leitlinien vorsehen, müssten ihm oft 15 bis 20 Medikamente verabreichen. "Bei der Entscheidung, was wir vernünftigerweise weglassen, stehen wir allein", klagt der Hamburger Geriater Wolfgang von Renteln-Kruse in Bonn. "Wenn wir dann nicht weiter wissen, schreiten wir zum Äußersten: Wir fragen den Patienten selbst." Patienten seien durchaus imstande, an solchen Entscheidungen mitzuwirken.

Höheres Risiko für Frauen

Bei Frauen komme es häufiger als bei Männern zu unerwünschten Wirkungen, berichtete Edeltraut Garbe vom Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin der Universität Bremen. Auch wenn man berücksichtige, dass Frauen mehr Medikamente schlucken, bleibe ein erhöhtes Risiko. Manchmal liegt die Ursache in verborgenen biologischen Unterschieden: So produzieren Frauen weniger Enzyme, die für den Abbau einiger Mittel nötig sind.

Manchmal liegt es auch daran, dass Ärzte Offensichtliches nicht berücksichtigen: "Frauen sind im Durchschnitt leichter als Männer", sagt Garbe. "Dennoch erhalten sie häufig die gleiche Dosierung von Medikamenten - und das ist oft zu viel." So ergab eine Studie zum Herzmedikament Digitalis kürzlich: 70 Prozent aller Frauen, die wegen Nebenwirkungen ins Krankenhaus kamen, hatten eine Überdosis erhalten, aber nur knapp 30 Prozent der Männer. Zwar sind die Zeiten vorbei, da Arzneimittelstudien fast ausschließlich an Männern durchgeführt wurden.

Vor allem die US-Arzneimittelbehörde FDA besteht darauf, dass Medikamente auch an Frauen getestet sein müssen. "Doch die so gewonnen Erkenntnisse werden längst noch nicht überall berücksichtigt", kritisiert Garbe. Die Folge: Frauen kommen deutlich häufiger wegen Arzneimittelzwischenfällen ins Krankenhaus. Von zehn Substanzen, die zwischen 1997 und 2000 vom US-Markt zurückgezogen wurden, waren acht für Frauen riskanter als für Männer.

Auch das deutsche Gesundheitssystem selbst birgt Risiken: "Typisch für Deutschland ist die starke Segmentierung des Gesundheitswesens", sagt Matthias Schrappe. Wenn ein Patient etwa vom Hausarzt in die Klinik überwiesen wird, von dort ins Pflegeheim kommt und dieses einen Facharzt hinzuzieht, ist keineswegs gesichert, dass alle Beteiligten wissen, welche Medikamente der Patient im Laufe weniger Wochen verordnet bekam. Ganz zu schweigen von rezeptfreien Pillen.

Fortschritte werde die geplante elektronische Gesundheitskarte bringen, versprach Stefan Bales vom Bundesministerium für Gesundheit bei der Bonner Tagung. Ein Chip soll künftig das Rezept ersetzen: Der Arzt speichert die Verordnung darauf, der Apotheker kann sie problemlos lesen. So werde die Kommunikation zwischen den 123.000 niedergelassenen Ärzten, 2200 Krankenhäusern und 21.000 Apotheken in Deutschland verbessert, warb Bales für das aus Datenschutzgründen umstrittene Plastikkärtchen.

Es wird aber nur bei den Patienten, die dies ausdrücklich wünschen, sämtliche verschriebenen Medikamente speichern. Pflicht für alle Versicherten soll nur das elektronische Rezept für die aktuelle Verordnung werden. Matthias Schrappe beurteilt den Nutzen zurückhaltend. Wichtiger sei, dass Ärzte, Pflegepersonal und Patienten mehr miteinander reden. "Wer über einen Patienten nur als der Blinddarm auf Zimmer 16" spricht, wird ihn leichter verwechseln als derjenige, der ihn als Herrn Müller kennt, der gestern mit einer Blinddarmentzündung eingeliefert wurde."

© SZ vom 4.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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