Altlasten vor der Küste:Explosives auf dem Ostsee-Grund

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Noch immer lagern alte Kampfmittel vor deutschen Küsten. Unfälle werden bisher als "Einzelfälle" bezeichnet - wird die Bedrohung für Mensch und Umwelt unterschätzt?

Axel Bojanowski

Auf dem Grund der Nord- und Ostsee vergammeln seit dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Tonnen Sprengstoff und chemische Munition. Weil die Bomben und Hülsen nach und nach durchrosten, droht ihr giftiger Inhalt ins Meer zu gelangen und an die Küsten gespült zu werden, warnen Umweltverbände und Wissenschaftler seit langem.

Erdbebenmessgeräte registrieren zudem regelmäßig Detonationen im Meer. Am Dienstag debattiert das Europäische Parlament darüber, ob das Problem der Munitionsaltlasten in das "Grünbuch Meerespolitik" der EU aufgenommen werden soll. Dieses Werk soll Regeln für Wirtschaft, Umweltschutz, Fischerei und Tourismus der Meeresanrainer enthalten.

Sprengung zur Vorsorge

Die Landesregierung von Schleswig-Holstein hält die Bedrohung durch die Kampfstoffe für gering. Sie stützt sich auf die chemische Untersuchung eines sieben Quadratkilometer großes Areals vor der Kieler Förde. In diesem Gebiet liegen mindestens zwei Munitionsdepots.

Eines von ihnen - es befindet sich nur zweieinhalb Kilometer vor der Küste in nur zehn Meter Wassertiefe - war im vergangenen Herbst gesprengt worden. Eine Vorsorgemaßnahme, damit die 70 Torpedo-Sprengköpfe und Minen nicht unkontrolliert explodieren.

Doch die Sprengung hat die Gefahr womöglich nur verlagert: Der TNT-Sprengstoff bröckelte ins Wasser, Wissenschaftler warnten vor den Folgen einer schleichenden Vergiftung der Ostsee.

Wasser und Meeresboden seien jedoch nicht verunreinigt, berichtet das Kieler Umweltministerium jetzt. Das habe die besagte chemische Untersuchung von 18 Sandproben des Meeresgrundes und 16 Wasserproben ergeben. Bislang hat das Ministerium allerdings nur eine Pressemitteilung veröffentlicht, den Untersuchungsbericht selbst bleibt sie schuldig.

Lediglich "in der Nähe" eines Munitionsdepots sei TNT in geringer Dosis nachgewiesen worden, sagt Bernd Scherer, Referatsleiter für Meeresschutz im schleswig-holsteinischen Umweltministerium. Ansonsten liege der Anteil von Schadstoffen "unterhalb der Bestimmungsgrenze von 0,02 Milligramm je Kilogramm". "Die Untersuchung hat gezeigt, dass von dem Sprengstoff kein Gift ins Meer gelangte", sagt Scherer.

Das sei ein Trugschluss, widersprechen die Umweltverbände Naturschutzbund, die Gesellschaft zum Schutz der Meeressäugetiere und die Gesellschaft zur Rettung der Delphine. Mit hohen Giftmengen in Wasser und Sand sei gar nicht zu rechnen gewesen.

Gefährlich seien vielmehr Sprengstoffpartikel. Sie könnten von den Strömungen an Strände transportiert oder von Muscheln aufgenommen werden und damit in die Nahrungskette gelangen. Diese Gefahr sei jedoch nicht untersucht worden.

Auch der Umweltgutachter Stefan Nehring, ein Experte für untermeerischen Sprengstoff, zweifelt an der Aussagekraft der Untersuchung des Ministeriums: "Die gemessenen Konzentrationen der Gifte sagen wenig."

Vielmehr müsse getestet werden, wie sich die Summe der Substanzen auf Lebewesen auswirke. Außerdem kritisiert Nehring die Orte, an denen die Proben genommen wurden. "Offenbar wurde höchstens eine Probe in der Nähe eines Munitionslagers entnommen", sagt Nehring.

Erhöhte TNT-Werte

Ob der Sprengstoff giftige Klumpen freisetze, lasse sich jedoch am besten direkt neben dem Sprengstoff messen. Zudem bleibe unklar, ob der punktuell erhöhte TNT-Wert auf ein bislang unbekanntes Munitionsdepot hinweise.

Das Umweltministerium sieht sich nun in einer Zwickmühle. "Wenn wir das Meer nicht untersuchen, stehen wir in der Kritik. Nun haben wir untersucht - und werden dennoch angeklagt", sagt Scherer. Angelika Beer, Europaparlamentarierin der Grünen, nennt die Untersuchung der Regierung Schleswig-Holsteins einen "plumpen Beschwichtigungsversuch". Es reiche nicht aus, punktuell und "mit fragwürdigen Grenzwerten" Analysen durchzuführen.

Immer wieder zeigen überraschende Funde in Küstennähe, dass die Bedrohung womöglich unterschätzt wird. Erst kürzlich entdeckte ein Fernsehteam in der Kieler Förde 70 Torpedo-Sprengköpfe und Minen. 2001 waren zwei Dutzend Wasserbomben und 3000 Granaten in der Flensburger Förde gefunden worden. "Allein nahe der deutschen Ostseeküste gibt es mindestens 16 Munitionsdepots", sagt Nehring. Und: "Viele Lager dürften noch unentdeckt sein."

Warum die Munition weit verstreut am Meeresboden liegt, lesen Sie auf der nächsten Seite

Nicht in vorgesehener Tiefe versenkt

Die Entsorgung der Munition am Kriegsende vor 62 Jahren verlief zuweilen chaotisch. Große Mengen Munition wurden nicht an den vorgesehenen tiefen Stellen versenkt, weil die Bootsführer pro Ladung entlohnt wurden und so schnell wie möglich die nächste Fracht aufnehmen wollten.

Entsprechend liegen die Kampfstoffe verstreut am Meeresboden, Strömungen und Fischernetze verteilten das Kriegsmaterial immer weiter, sagt Nehring. Dennoch ist die Mehrzahl der Depots in Seekarten verzeichnet.

Explosionskörper seien in der Ostsee "allgegenwärtig", räumte auch die schleswig-holsteinische Landesregierung 2001 in einem Fischerei-Bericht ein. Die Küstengewässer der Ostsee seien "auch außerhalb der bekannten Versenkungsgebiete stark kampfmittelbelastet", lautete die Antwort auf eine FDP-Anfrage.

Zu wie vielen Unfällen das führt, ist aber unklar. Nur Dänemark veröffentlicht eine Statistik. Dort verletzen sich jährlich etwa 20 Menschen, vor allem Fischer, durch Kampfmittel auf dem Meer. 2005 wurden drei niederländische Fischer von einer Bombe getötet. Chemische Kampfstoffe können zudem zu Verbrennungen und Verätzungen führen, Erblindung verursachen und Krebs auslösen. Dutzende Fischer und Marinesoldaten mussten das bereits erleiden.

Bislang seien Munitionsverletzungen auf der Ostsee "Einzelfälle", sagte Kai Kehe vom Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr kürzlich auf einer Tagung in Berlin. Er wies zudem auf die "besondere Gefahr" der Bergung von Munition hin.

Die Grünenpolitikerin Beer hingegen fordert von der EU "Maßnahmen zur Sicherung und Bergung der Kriegsaltlasten" zu prüfen. Am Mittwoch will das EU-Parlament darüber abstimmen, ob das Thema Munition auf der Tagesordnung der Politik bleibt.

© SZ vom 10.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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