150 Jahre Evolutionstheorie:Darwins Lesesaal

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Hinter einen unscheinbaren Tür findet man in London den Sitz der Linnean Society. Hier wurde am 1. Juli 1858 die Evolutionstheorie erstmals öffentlich vorgestellt.

Christopher Schrader

Am Burlington House in London steht vor schmiedeeisernen Gittern unter einem schmalen Durchgang eine rote Telefonzelle. Es ist ein Motiv für Touristen, die vom Buckingham Palace und dem St.James Park zum Piccadilly Circus bummeln.

Die Evolutionstheorie wurde erstmals 1858 im Reynolds Room vorgestellt. (Foto: Foto: Royal Academy of Arts)

Sie schauen in den Innenhof hinein, der sich hinter dem Torbogen im viktorianischen Zuckerbäckerstil öffnet. Eine Metallplastik beherrscht den Platz, auf dem es trotz des Verkehrslärms auf der Piccadilly-Straße ruhig ist. Nichts weist den Besucher darauf hin, dass hier vor genau 150 Jahren Wissenschaftsgeschichte geschrieben worden ist.

Gegenüber der Telefonzelle liegt eine unscheinbare Tür, über der in Messing-Buchstaben "Linnean Society" steht. In diesem vor 220 Jahren gegründeten Club von Naturforschern wurde am 1. Juli 1858 ein Aufsatz von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace verlesen. Der Tag gilt als Geburtsstunde der Evolutionstheorie. Zum Jubiläum hatte die Gesellschaft am Dienstag zu einem Symposium eingeladen.

Gina Douglas, die Geschäftsführerin der Linnean Society, führt die Besucher des Symposiums in einen Raum, der aussieht wie ein Gerichtssaal. Reihen schmaler Bänke blicken auf ein Pult an der Stirnseite, hinter dem ein Sessel mit hoher Lehne für David Cutler steht, den Präsidenten der Gesellschaft. Daneben finden die Festredner Platz.

"Der Begriff Revolution trifft vollkommen zu"

Cutler hat für den offiziellen Anlass seine Amtskette umgelegt mit dem Wappen der Society: Löwe und Adler stützen den Schild des Schweden Carl von Linné, des Namensgebers der Gesellschaft, der im 18. Jahrhundert in der Biologie das System zur Einordnung von Lebewesen in das Tier- oder Pflanzenreich eingeführt hatte.

Auf dem Symposium spricht zunächst der Amerikaner Allen Orr von der Rochester University über neue Forschung zur Evolutionstheorie. Er erzählt von Gauklerblumen, Fruchtfliegen und Stichlingen, die sich jeweils durch kleine Veränderungen in mehrere Arten aufgespalten haben.

"Der Begriff 'Revolution' ist wahrscheinlich der am meisten missbrauchte Begriff der Wissenschaft", sagt er. "Aber für das Werk von Darwin und Wallace über die Entstehung der Arten trifft er vollkommen zu."

Gareth Nelson von der Universität im australischen Melbourne spricht anschließend über die Trennlinie zwischen der australischen und asiatischen Flora und Fauna, die Wallace zwischen den Inseln des heutigen Indonesien ausgemacht hatte. Borneo und Bali liegen auf der asiatischen Seite, Sulawesi und Lombok auf der australischen.

Die Trennung der Lebewesen wird inzwischen als Folge der Plattentektonik gesehen, sagt Nelson. Die Bewegung der Erdplatten hatte zuvor weit voneinander entfernte Landmassen mit ihren Tierarten und Pflanzen zu Nachbarn gemacht.

Währenddessen blicken Darwin und Wallace von großformatigen Ölbildern auf Redner und Publikum herab. Beide tragen auf den Portraits lange weiße Bärte. Darwin steht ein wenig verloren im Mantel da, den Hut in der Hand. Wallace sitzt im Sessel vor einem Dschungelgemälde, schaut milde und hält ein Buch mit einem Schmetterling auf dem Schoß.

Trotz der gediegenen Atmosphäre ist der Raum für das Ereignis eigentlich zweite Wahl. Die Evolutionstheorie wurde nämlich 1858 in einem Saal etwas weiter hinten im Innenhof verlesen. Dort ist heute die Royal Academy of Arts untergebracht. In dem heute Reynolds Room genannten Saal werden wechselnde Kunstausstellungen gezeigt, zurzeit hängen dort gemalte Alltagsszenen aus zwei Jahrhunderten.

Eine Tafel an einer Stirnseite erinnert an das wissenschaftshistorische Ereignis. Doch vermieten mochte die Akademie ihren Nachbarn den Saal nicht, jedenfalls nicht zu einem akzeptablen Preis. "Die erste Forderung betrug 20.000 Pfund", sagt Gina Douglas.

Sprung von der Tradition in die Moderne

Da hat sie ihre Feier doch lieber in den eigenen Räumen organisiert, die in den 1870er-Jahren von Königin Victorias Prinzgemahl Albert erbaut und den wissenschaftlichen Gesellschaften übertragen wurden. Und zwar für mindestens weitere 80 Jahre: Kürzlich hatte die Regierung versucht, die Gelehrtenclubs aus ihrer Citylage zu vertreiben. Erst nach gerichtlichen Klagen der Gesellschaften wurde ein Vergleich geschlossen.

Die lange Perspektive ist für die Linnean Society auch ein Anlass, den Sprung von der Tradition in die Moderne zu wagen. Gina Douglas weist bei jeder Gelegenheit darauf hin, was die Gesellschaft schon alles im Internet stehen habe. Tatsächlich können Forscher dort durch Folianten und Objekte der Sammlung stöbern, die zum Teil auf Carl von Linné zurückgehen. Sie können Fotos dazu per Mausklick heranzoomen, Abmessungen und Größenverhältnisse bestimmen, ohne eigens nach London zu reisen.

Allerdings ist schon der Anblick der Bibliothek die Reise wert. Es ist ein doppelstöckiger Raum, an dessen Wänden Bücherregale auf drei Ebenen zugänglich sind. Durch Atelierfenster in der Decke strömt Licht, unten stehen rings um Arbeitstische die Buchschätze in verschlossenen Schränken. Das älteste Werk stammt von 1483.

Das Bibliothekspersonal öffnet Gelehrten, die die Werke für ihre Arbeit brauchen, die Gittertüren. Die Bibliothek war 25 Jahre lang Gina Douglas' Reich, bevor sie vorübergehend den Geschäftsführer-Job übernahm, den sie bald wieder abgeben wird.

Der große Rummel beginnt erst 2009, wenn sich das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Die Entstehung der Arten" zum 150. Mal jährt. (Foto: Foto: dpa)

Sie präsentiert stolz drei Vitrinen mit Reliquien der geehrten Forscher. Zwei enthalten Sammlungsstücke von Wallace, Notizbücher, Zeichnungen sowie die Haut eines Python, der irgendwo im malayischen Archipel in seine Hütte gekrochen war.

Von Darwin stammt eine Botanisiertrommel, eine Erstausgabe seines Buches über die Entstehung der Arten, Bilder und eine Tabakspfeife - "aber die ist wahrscheinlich eine Fälschung", sagt Gina Douglas mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dieser von Selbstironie gebrochene Stolz ist eine Eigenschaft, die Besucher Londons immer wieder als typisch englisch empfinden.

An Bedeutung verloren

Der Traditionspflege zum Trotz müssen sich die Mitglieder der Linnean Society damit abfinden, an Bedeutung verloren zu haben. In früheren Zeiten waren die Sitzungen ein Mittel für Naturforscher, wissenschaftlich auf dem neuesten Stand zu bleiben. Das Urteil der Teilnehmer über einen Vortrag entschied darüber, welche Forschungsarbeit veröffentlicht wurde.

Heute übernehmen das die professionellen Redakteure von Fachzeitschriften sowie ihre Gutachter; auch die Linnean Society gibt drei solche Journale heraus.

Einst war es auch eine Ehre, überhaupt Mitglied werden zu dürfen, erzählt Brian Gardiner, der seit 40 Jahren den The Linnean herausgibt und Mitte der 1990er-Jahre auch Präsident der Gesellschaft war: Man musste von zwei Mitgliedern vorgeschlagen werden und dann eine Abstimmung über sich ergehen lassen. Heute liegen im Foyer Aufnahmeanträge aus, die sich ausdrücklich auch an Amateur-Biologen wenden, an "Naturalists".

Dieser englische Begriff lässt sich kaum adäquat ins Deutsche übersetzen, weil er einen seriösen Anspruch in sich trägt, der im Deutschen kaum zum Wort "Hobby" passt. "Wir haben noch 2000 Mitglieder, aber sind eine alternde Gesellschaft", klagt der 75-jährige Gardiner. Er wendet seine Sorge gleich in britischer Art zur Selbstironie. "Immerhin werden manche unserer Mitglieder 90 Jahre alt, wir scheinen also einen guten Einfluss zu haben. Darauf hoffe ich zumindest."

Für die Selbstdarstellung in der Welt tut es den Mitgliedern und Mitarbeitern der Linnean Society also gut, dass sie mit den Feierlichkeiten zur Evolutionstheorie schon mindestens sechs Monate vor allen anderen beginnen können. Der große Rummel beginnt erst 2009, wenn sich das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Die Entstehung der Arten" zum 150. Mal jährt.

© SZ vom 03.07.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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