100 Jahre Tunguska-Katastrophe:Der sagenhafte Knall

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Am 30. Juni 1908 verwüstete eine gewaltige Explosion in Sibirien die Tunguska-Region. Was war die Ursache? Ein Ufo, ein Asteroid oder Methangas? Auch nach 100 Jahren wuchern noch immer die Spekulationen.

Axel Bojanowski

Still lag die Taiga am Morgen des 30. Juni 1908. Dann zerfetzte eine gewaltige Explosion die Stille am Fluss Podkamennaja. Der Himmel über der Sumpflandschaft schien zu brennen.

Die Tunguska-Region nach dem 30. Juni 1908. (Foto: Foto: dpa)

Mit der Wucht Tausender Atombomben fegte ein Hitzeschwall übers Land. Sämtliche Bäume auf einer Fläche fast so groß wie das Saarland knickten um. Noch in mehr als 1000 Kilometer Entfernung hörten Menschen den Donner. Selbst im fernen Europa leuchtete der Nachthimmel taghell. Doch trotz seiner immensen Wirkung hinterließ die Ursache für das "Ereignis von Tunguska" keine eindeutigen Spuren. So rätseln Wissenschaftler noch heute, 100 Jahre später, was das Inferno ausgelöst hat.

Die Beweisaufnahme begann äußerst schleppend. Erst 19 Jahre nach dem Ereignis sahen sich Forscher in der Gegend um. Der russische Mineraloge Leonid Kulik suchte nach Fragmenten eines Asteroiden. Nur ein Einschlag aus dem All hätte den Himmel erleuchten und den Knall verursachen können, glaubte der Gelehrte.

Vor Ort in Zentralsibirien sah er sich zunächst bestätigt. Millionen Bäume lagen entwurzelt auf dem Boden, viele trugen Brandspuren. Doch ausgerechneten in dem am meisten zerstörten Gebiet waren einzelne Bäume stehengeblieben, kahl wie Schiffsmasten.

Das Unglücksgebiet hat die Form eines Dreiecks, erkannte Kulik. Nahe des stumpfen Ecks müsse der Meteorit in flachem Winkel aufgeschlagen sein. Doch Kulik stieß weder auf einen Krater, noch auf kosmisches Material. Dafür berichteten Einheimische von bis zu 14 Explosionen. Göttliche Donnervögel seien vom Himmel gefahren, fürchteten religiöse Bewohner.

Auch die Wissenschaftler wurden immer phantasievoller. Nach dem Weltkrieg spielten sowjetische Forscher das Ereignis in Miniaturgröße nach. Knallkörperchen an dünnen Drähten pusteten Spielzeugbäume um.

Die Versuche wurden sorgfältig auf Schwarzweiß-Film festgehalten. Ähnlichkeiten zu Atombombenexplosionen fielen auf. Bei Kernwaffentests entstehen Polarlichter hoch in der Luft. In Hiroshima und Nagasaki waren zudem einzelne Gebäude inmitten des Infernos stehengeblieben - wie jene Bäume in Tunguska.

Tatsächlich wurde in Bodenproben aus Tunguska erhöhte Radioaktivität nachgewiesen. Zudem waren Pflanzen im Tunguska-Gebiet nach der Katastrophe angeblich ungewöhnlich schnell und hoch gewachsen. "Wuchernde Riesenflora" wurde als Folge einer Atomexplosion gedeutet.

Die Theorie hatte den Haken, dass die waffenfähige Spaltung von Atomen 1908 noch gar nicht entdeckt worden war. Es müsse folglich der nukleare Antrieb eines außerirdischen Raumschiffs explodiert sein, folgerte der sowjetische Geophysiker Alexej Solotow Anfang der 1950er Jahre.

Das war das Stichwort für Esoteriker und Ufologen. Sie lieferten sogleich die Begründung, warum Außerirdische in der Taiga zur Landung angesetzt hatten. Die Fremdlinge wollten Frischwasser aus dem Baikalsee tanken. Die Ufo-Theorie könnte erklären, warum es mehrere Explosionen gegeben und das Feuer am Himmel in scharfem Winkel seine Richtung geändert habe, betonten ihre Vertreter. Schließlich hätten Augenzeugen die Lichterscheinungen an unterschiedlichen Orten gesehen. Nur ein steuerbarer Körper hinterlasse solch eine Spur.

Doch den Alien-Theoretikern sind die Beweise abhanden gekommen. Ein in der Tunguska-Region entdecktes "außerirdisches Metallteil" sei verschwunden, klagen sie. Und ihr Spiritus Rektor, der Geophysiker Solotow, sei 1995 "auf der Straße ermordet worden".

Vor vier Jahren meldeten russische Abenteurer erneut den Fund von Ufo-Teilen in Tunguska. Die Relikte würden seither "im Labor untersucht". Manche Freigeister benötigen für ihre Alien-Theorie kein Raumschiff-Wrack.

Das Tunguska-Ereignis sei von einem "hochgebündelten Laserstrahl" verursacht worden, den Außerirdische als Gruß Richtung Erde abgefeuert hätten. Die Aliens hätten Radiowellen des Vulkanausbruchs von Krakatau 1883 für eine Nachricht von der Erde gehalten.

Vom Klamauk angesteckt

Selbst Wissenschaftler schien der Klamauk anzustecken. 1958 berichteten Physiker im renommierten Wissenschaftsjournal Nature, Antimaterie hätte das Inferno von Tunguska ausgelöst. Antimaterie explodiert bei Kontakt mit normalen Stoffen; sie lässt sich eigentlich nur künstlich erzeugen. Warum aber der Antimaterie-Sturm nicht bereits beim ersten Kontakt mit Materie im All verstrahlte, konnte nie recht geklärt werden.

Als Auslöser von Tunguska tippten zwei Astrophysiker deshalb auf ein Schwarzes Loch. Ein Mini-Exemplar jener Schwerkraftfallen, die alles einsaugen, hätte die Erde durchschlagen, schrieben sie 1973 ebenfalls in Nature. Seine Austrittstelle auf der anderen Seite der Erde wurde jedoch nie gefunden. Weder wurde von Tsunamis, noch von anderen Auswirkungen des Schwarzen Mikro-Loches im Atlantik berichtet.

Zwar schreckten die vielen Spekulationen immer mehr Wissenschaftler ab, sich mit Tunguska zu beschäftigen. Jene, die sich dem Thema widmeten, unterstützen aber zunehmend die Asteroiden-Theorie.

1983 berichtete ein Chemiker aus den USA, Eisenkügelchen aus der Taiga bewiesen, dass ein 160 Meter dicker Himmelskörper über Sibirien explodiert sei. Allerdings liegt die Gegend über einem alten Vulkan, der ebenfalls Metallkugeln gespuckt haben könnte.

Dennoch glauben viele Experten weiterhin an einen Kometen, der über der Taiga zerplatzt sei. Die Explosion hätte jedoch bereits beim Eintritt in die Atmosphäre geschehen müssen, bemängeln Kritiker. Sie favorisieren den Einschlag eines soliden Eisen- oder Steinmeteoriten.

30 Meter dick sei das Geschoss gewesen, berichtete ein Geophysiker vergangenen Dezember. Kurz zuvor hatten seine Kollegen den mutmaßlichen Einschlagkrater präsentiert: der Tscheko-See. Dass konzentrische Auswurfringe - das charakteristische Merkmal eines Meteoritenkraters - fehlten, liege am gashaltigen Matschboden, der einen Großteil der Aufprallenergie verschluckt habe.

Das Unheil sei nicht von oben, sondern von unten gekommen, entgegnet Wolfgang Kundt von der Universität Bonn. Eine gewaltige Methanexplosion habe das Inferno ausgelöst. Die Theorie gewinnt nun immer mehr Anhänger.

Gleichwohl wollen italienische Geologen um Luca Gasperini aus Bologna nun im Tscheko-See nach Meteoritenfragmenten fahnden. Noch suchen sie jedoch einen Sponsor für die teure Expedition. Die Geologen machen sich keine Illusionen über einen schnellen Erfolg: "Das Thema", haben sie erkannt, "gilt bei manchen Leuten als pseudo-wissenschaftlich."

© SZ vom 27.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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