Zielland Österreich:Der deutsche Gast räumt ab

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Seitdem es in Deutschland talwärts geht, ziehen immer mehr Jobsucher gen Süden in die Alpenrepublik, die sie früher nur als Urlaubsidyll kannten.

Von Michael Frank

Die beiden Kerle waren furchtbar lästig. Andauernd bekrittelten sie ihre Sprechweise, alberten herum, ob Sächsisch überhaupt unter die erlernbaren Idiome falle und ob Menschen aus dem Südosteck Norddeutschlands überhaupt je einen "zivilisierten" Sprachgebrauch erwerben könnten.

Die Melange will gebracht und abkassiert werden: Immer mehr Deutsche erledigen dies in Österreich. (Foto: Foto: AP)

Eines Tages stellte Liesl die beiden Burschen aus dem Tiroler Wipptal dann ziemlich spitz zur Rede wegen ihrer verletzenden Art - und die waren ganz verdattert.

Denn wieder einmal war da dieses immerwährende Missverständnis zwischen Nord und Süd im deutschen Sprachraum: Die jungen Männer hatten das Fräulein aus dem Nordosten keineswegs kränken wollen; sie wollten, wie man so sagt, mit ihr anbandeln, denn Traudl ist ein schmuckes Weibsbild. Und anbandeln kann man am besten, indem man jemanden neckt, und da war ihnen nichts Dümmeres eingefallen, als die Sache mit dem Dialekt.

Dicht ausgebaute Urlaubsregion

Das Wipptal, das sich von Innsbruck den Brenner hinaufzieht, ist eine der am dichtesten ausgebauten Urlaubsregionen der Alpen, sowohl von länger verweilenden wie auch von durchreisenden Gästen genutzt.

Liesl hat sich zur Arbeit hier anwerben lassen vom Österreichischen Arbeitsmarkt Service (AMS), der sie von einem kleinen Ort nahe Görlitz an der polnischen Grenze nach Tirol vermittelte. Und eigentlich heißt sie gar nicht Liesl - ihr Vorname wurde sogleich ortsüblich eingemeindet, und den Nachnamen möchte sie nicht genannt wissen. Im Wipptal hat sie Arbeit gefunden, die zu Hause nicht zu haben war.

Deutsche sind nach Türken und Menschen aus dem früheren Jugoslawien längst die drittgrößte Gruppe von Gastarbeitern in Österreich. Und sie sind ins Gerede gekommen, weil Martin Bartenstein, Wirtschaftsminister der Republik, das Ansteigen der - immer noch erfreulich niedrigen - Arbeitslosigkeit in Österreich hauptsächlich als Folge dessen darzustellen suchte, dass so viele Kräfte aus dem krisengeschüttelten Deutschland zum Arbeiten ins Land strömten.

Zum Dienst als Frühmamsell

Liesl lebt hier bereits ein Jahr. Dass eine Schorle hier Gspritzter heißt, dass es sich bei Fisolen und Karfiol um Brechbohnen und Blumenkohl handelt, hat sie schnell gelernt. Sie arbeitet als Bedienung in einem respektablen Nachmittags- und Abendlokal, in dem es oft spät werden kann. So geht sie manchmal gar nicht zu Bett, bevor sie früh morgens ihren zweiten Dienst als "Frühstücksmamsell" in einem Hotel antritt.

Dass sie zwei Arbeitsplätze hat, sollten ihre jeweiligen Arbeitgeber besser nicht wissen, drum soll der Name auch nicht bekannt werden. Doch dieser Fleiß! Damit passt die 28-Jährige ziemlich genau in das Bild, das Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in Tirol und ganz Österreich von den Tausenden Deutschen zeichnen, die signifikant ihren Platz gewechselt haben: Früher standen sie ausschließlich als Gäste vor der Bar-Theke, jetzt stehen sie zum Arbeiten auch dahinter.

Fritz Dinkhauser, der seines impulsiven Temperaments wegen weithin bekannte konservative Präsident der Tiroler Arbeiterkammer, sagt: "Die Deutschen sind unglaublich motiviert. Die schuften rund um die Uhr. Manchmal tun sie mir richtig leid."

"Vorgarten von Berlin"

Die Arbeiterkammer, in der in Österreich ein jeder Arbeitnehmer zur Mitgliedschaft verpflichtet ist, registriert allein in Tirol 8000 Deutsche in Festanstellung, dazu noch etwa tausend Lehrlinge. "Die fangen schon in der Krippe bei uns an", scherzt Dinkhauser und nennt dies "eine friedliche deutsche Invasion", die aus "Tirol einen Vorgarten von Berlin" macht.

"Sehr brav, sehr willig und billig, aber nicht unter Tarif" - so arbeiten die Deutschen, soweit die Arbeiterkammer das einschätzen kann. "Die haben es nicht leicht, aber das stecken die weg", meint Dinkhauser.

Und den Tirolern, macht denen die Arbeitskräftekonkurrenz etwas aus? "In den Tälern", sagt Dinkhauser, "kann es fast einen Verdrängungswettbewerb geben." Da kämen jetzt Konkurrenten, die nicht, wie früher Türken oder Jugoslawen, angelernt werden müssten und letztlich oft nur als Tellerwäscher oder für ähnliche niedere Dienste eingesetzt würden.

"Vernünftiges Auftreten"

"Da kommen Leute, die Deutsch sprechen, die oft sogar gebildet sind, die froh sind über die Arbeit, die höflich sind und ein vernünftiges Auftreten haben. Die arbeiten gut und sind interessante Arbeitnehmer."

Auch deshalb, weil sie nicht um Zulagen feilschen, die sich die Einheimischen ihrerseits in Jahrzehnten ausgehandelt hatten. Die von draußen sind gern mit den besseren Trinkgeldgepflogenheiten in Österreich zufrieden, drücken also faktisch das Salär.

In Judenstein, wo das Kirchlein des legendären Anderl von Rinn steht, rauscht der Ahorn. Eine grüne Idylle am Hang zwischen dem Inntal und dem Alpenhauptkamm am Patscherkofel. Im Hotel Geisler streicht Thomas Olschak die Holzgartenmöbel, verfugt Ritzen.

Der 37-Jährige aus der Nähe von Bautzen in der Oberlausitz ist vor einem halben Jahr über eine auf Tourismuskräfte spezialisierte Agentur hier angelandet, als Hausmeister und Küchenhilfe.

Hoch zufrieden

Der Mann mit den blauen Augen ist hoch zufrieden. Er war Forstarbeiter und hat in Aachen gearbeitet. In Ruhpolding in Bayern verdingte er sich als Küchenkraft, doch da ging es ihm zu ruppig zu. Zu Hause in Sachsen war er Landschaftsgestalter. Aber da war ihm, wie er glaubt, wegen der billigeren Polen die Arbeit ausgegangen.

Elisabeth Rainer, die Geschäftsführerin des Hotels, erzählt freimütig, dass sie für die Zimmer und als Küchenhilfen an Einheimischen fast nur noch Problemfälle bekomme, Leute, die sich bald als Trinker entpuppten.

Fünf Deutsche hat sie mittlerweile beschäftigt, fünf von insgesamt 24 Angestellten. Auch Elisabeth Rainer bestätigt die hohe Motivation der Nordlichter. Und wenn man Thomas Olschak beim Arbeiten zuschaut, dann hat man den Eindruck, dass es ihm mindestens so sehr um die Arbeit an sich geht wie um den Verdienst.

Zu direkt, zu grob?

Aber stehen denn die Deutschen nicht in Österreich gemeinhin im Rufe, zu direkt, ja manchmal grob zu sein? Die Hotelmanagerin verneint mit aller Bestimmtheit. Als Beispiel nimmt sie ihre Heimat Tirol: Die im Unterland seien so nett und höflich und zuvorkommend, aber man warte oft lange auf die Einlösung ihrer Zusagen.

Die aus dem Oberland aber seien kargere Charaktere, deren Wort gilt, die Versprochenes sofort erfüllen. So ähnlich kämen ihr die Norddeutschen vor, meint sie am Ende, die seien wirklich ein wenig "herber", ohne dass das kritisch gemeint sei.

Das Publikum in den Alpenschänken amüsiert sich eher, wenn plötzlich der Mann in Lederhosen hinter der Theke schnippisch berlinert. Im Skizirkus, den Freilufttheken auf den Tiroler Gletschern, ist der sächselnde Holdrio-Typ mit Tirolerhut geradezu hip. Früher hätten gerade die deutschen Gäste erwartet, dass der in den Lederhosen auch Tirolerisch rede. Heute sind nur Gäste aus Wien gelegentlich etwas pikiert.

Doch nicht nur Kellner, Köchinnen, Zimmermädchen oder Hausmeister kommen aus Deutschland. Sie stellen zwar die größte Gruppe, insgesamt aber gerade mal ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmer in Österreich.

Aus dem "Altreich"

Derzeit wühlen sich Bagger und Bulldozer im 24-Stunden-Einsatz für eine neue U-Bahnröhre durch Wiens Untergrund. Die Hälfte der harten Burschen, die hier malochen, kommen aus dem "Altreich", wie Wiener manchmal noch das Nachbarland nennen. In Wiens Banken sitzen die Germanen, Deutsche arbeiten als Architekten, als Ingenieure. Atmosphärische Störungen sind viel seltener als erwartet.

"Nur der Spruch: ,Das machen wir in Deutschland aber so und so' - der ist streng verpönt. Dann werden die Wiener sauer und fragen, ,warum seid Ihr eigentlich hier'", erzählt ein Banker aus Hessen. Irgendwie, vermutetet man in der Wiener Arbeiterkammer, funktionieren schlichtweg "die guten alten Vorurteile noch: Wenn unter zehn Bewerbungen ein Deutscher ist, dann hat er den Job".

Das will Martin Abel so nicht gelten lassen. Abel ist Filialleiter der Buchhandlung Morawa an der Wiener Wollzeile, eines der wichtigsten Buchläden der Stadt. Natürlich sehe man sich die Bewerbungen genau an. "Die deutschen Bewerbungen", sagt Abel, "sind oft die interessanteren.

"Die nehmen die Sache ernster"

Die wissen ihre Kenntnisse und Qualifikationen ganz anders vorzutragen." Man habe den Eindruck, "die nehmen die Sache von vornherein viel ernster, die bewerben sich für eine Buchhändlerstelle genauso wie für einen Vorstandsposten".

Franz Schubert, der hier bei Morawa unter anderem Lesungen organisiert, sagt es so: Die österreichischen Buchhändler seien oft eher in sich gekehrte Naturen. "Da kommt dann so eine junge Deutsche, Schulterblätter raus, frische offene Frage, ,wie kann ich Ihnen helfen', und plötzlich krempelt sich die Atmosphäre einer ganzen Abteilung um."

Und die Sprache, der Umgang? Filialleiter Abel bestätigt ein gelegentliches Befremden bei der Kundschaft, das sich dann aber schnell ins Positive kehrt: Überfreundlichkeit wirke eher ausweichend, "während eine trockenere, manchmal sogar sprödere Art schnell mit besonders hoher Kompetenz gleichgesetzt wird".

Außerdem wüssten sich deutsche Kräfte rasch anzupassen. Und dann spiele da wohl auch noch der Idealismus mit hinein, glaubt Abel. Denn Buchhändler verdienen in Österreich weniger als in Deutschland.

Immaterielle Motive

Es gebe oft ein ausgesprochenes Bildungsinteresse, in Wien zu arbeiten oder andere immaterielle Motive wie die Neugier auf eine andere Kulturatmosphäre. So gingen die Deutschen mit besonderer Verve an ihren Beruf.

Silke Hahn jedenfalls fühlt sich akzeptiert und angenommen. Sie ist in die Buchhandlung Morawa über einen Wien-Besuch gekommen, besuchte eine Lesung, stöberte ein wenig herum und fragte dann freiweg jemanden, wie man denn in Wien eine Buchhändlerstelle bekomme. "Indem man sich bewirbt", war die Antwort. Binnen kürzester Zeit konnte sie bei der Belletristik anfangen.

Die 24-Jährige aus dem Bergischen Land, die in Köln gelernt hat, registriert, dass die deutsche Ausbildung in Österreich großes Ansehen genießt.

Zu Hause ziemlich schlecht behandelt

Nachdem sie mit der Lehre fertig war und ohne Arbeitsstelle dastand, fühlte sie sich bei der Suche zu Hause ziemlich schlecht behandelt. Als sie schließlich die Stelle in Wien gefunden hatte, mochte ihr das Kölner Arbeitsamt das Überbrückungsgeld bis zum Antritt des Postens nicht mehr weiterzahlen: Pampig beschied man sie, "Österreich gehört nicht zur EG und deshalb ist das keine europäische Lösung".

Allerdings ist Österreich schon seit zehn Jahren Mitglied der EU, und am Ende erkämpfte der Österreichische Arbeitsmarkt Service für die Deutsche in Deutschland das, was ihr an Unterstützung - Formblatt E 303 - noch zustand.

Irgendwelchen nationalen Sticheleien sieht sich Silke Hahn nicht ausgesetzt. Jemand sage schon mal, "das haben Sie aber mit deutscher Gründlichkeit gemacht".

Doch was wie eine Anzüglichkeit klingt, ist eher als Kompliment gemeint. Und Gefühle österreichischer Kollegen, die Teutonen nähmen ihnen die Arbeit weg? Filialleiter Abel hat so etwas noch nie gehört, und er fügt hinzu, das liege sicher nicht an der Zurückhaltung seiner Landsleute.

Zur Eifersucht kein Grund

Es besteht auch kein Grund zur Eifersucht. Die Arbeiterkammer des Landes Niederösterreich hat sich die Zahlen genauer vorgenommen. Richtig ist, dass sich die Zahl der deutschen Arbeitskräfte in Österreich in den letzten zehn Jahren mehr als vervierfacht hat. Den derzeit 43.000 deutschen Arbeitnehmern in Österreich - in der Wintersaison waren es 45.000 - stehen 58.000 Österreicher gegenüber, die in Deutschland arbeiten und dort zumeist mehr verdienen als daheim.

Süffisant reiben die Arbeiterkämmerer dem Minister Bartenstein unter die Nase, Berlin mache die österreichischen Nachbarn auch nicht für die deutsche Arbeitsmarktmisere verantwortlich, obwohl in Deutschland derzeit 8353 Österreicher Arbeitslosengeld bezögen, in Österreich aber nur 3604 Deutsche, wobei es den österreichischen Betroffenen in Deutschland weit besser ergehe als umgekehrt.

Fliegenbeinzählerei

Für Traudl, Silke Hahn und Thomas Olschak ist das Fliegenbeinzählerei. Für alle drei zählt allein, dass sie hier Arbeit gefunden haben. Und Silke Hahn bestätigt, was schon die anderen beiden gesagt haben: So richtig im Ausland komme sie sich in Österreich nicht vor.

© SZ vom 17.06.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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