Wirtschaft und Psychologie:Das portugiesische Wunder

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Im Mai gingen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, darunter Lehrer, auf die Straße und streikten. Sie verlangen einen Ausgleich dafür, dass sie in der Wirtschaftskrise Abstriche hinnehmen mussten. (Foto: PATRICIA DE MELO MOREIRA / AFP)

Ausgerechnet der sozialistischen Minderheitsregierung ist es gelungen, die Wirtschaft des Landes mit einem rigiden Sparkurs wieder in Schwung zu bringen.

Von Thomas Urban, Lissabon

Die Statistik der Polizeibehörden in Lissabon ist eindeutig: Seit sechs Jahren gab es nicht mehr so viele Protestaktionen wie in diesem Jahr. Das Bild vom "portugiesischen Wirtschaftswunder", das auch internationale Experten bislang malten, bekommt Risse. Dieses Bild sah bislang so aus: Das Minderheitskabinett des Sozialisten António Costa setzte sich über das Brüsseler Spardiktat hinweg und generierte dennoch Wirtschaftswachstum. Delegationen sozialdemokratischer Parteien aus anderen EU-Ländern, denen zu Hause die Wähler weglaufen, pilgern seither nach Lissabon, um sich über diese Erfolgsgeschichte zu informieren.

Die Bilder sind allerdings ernüchternd. Nicht, weil die Zahlen falsch wären, diese stimmen durchaus: Portugal ist weiter auf gutem Weg, die große Krise hinter sich zu lassen. Doch taugt die Wirtschaftspolitik Costas wenig als Beleg für die populäre These, dass nicht Sparen, sondern Mehrausgaben des Staates der Weg aus Rezession und Staatsverschuldung sind. Stattdessen belegt sie die alte Volksweisheit, dass in der Wirtschaft sehr viel Psychologie ist: Der Sohn von Einwanderern aus der einstigen portugiesischen Kolonie Goa in Indien ist ein großer Kommunikator, der stets gute Laune verbreitet und dem es immer wieder gelingt, in Gesprächen mit widerstreitenden Parteien, etwa Arbeitgebern und Gewerkschaften, Kompromisse auszuhandeln.

Der öffentliche Dienst wurde verkleinert und Sozialleistungen wurden gekürzt

In Brüssel, aber auch beim Internationalen Währungsfonds (IWF) oder den großen Ratingagenturen wie Standard & Poor's wird Costa hoch angerechnet, dass er es geschafft hat, mit einer sozialistischen Regierung, die im Parlament vom neomarxistischen Linksblock und dem unter dem Kürzel CDU firmierenden Bündnis aus Kommunisten und Grünen geduldet wird, das Land weiter zu stabilisieren. Er wird als Pragmatiker geschätzt, dem mehr an der Lösung konkreter Probleme gelegen ist als an der Umsetzung ideologischer Vorgaben. Allerdings hatte er auch einen großen Startvorteil, als er 2015 Premierminister wurde: Sein liberalkonservativer Vorgänger als Regierungschef, der kühle Analytiker Pedro Passos Coelho, hatte bereits die Kärrnerarbeit bei der Überwindung der Wirtschaftskrise, die das Land 2011 an den Rand des Staatsbankrotts gebracht hatte, erledigt.

Ursache für die Krise war die Überschuldung einerseits des Staates, der sich einen überdimensionierten öffentlichen Dienst und ebensolche Infrastrukturprojekte geleistet hatte, andererseits der Privathaushalte, die auf Pump Immobilien und Konsumgüter erworben hatten. Kreditgarantien über insgesamt 78 Milliarden Euro retteten die damalige sozialistische Regierung 2011 vor der Zahlungsunfähigkeit. Wenig später wurden die Sozialisten abgewählt. Die drei Geldgeber - der IWF, die EU und die Europäische Zentralbank - verlangten als Gegenleistung für die Kredite ein Sparprogramm. Coelho setzte dieses Programm stoisch um: Der öffentliche Dienst wurde verkleinert, seine Arbeitszeit wieder auf 40 Wochenstunden verlängert, Sozialleistungen gekürzt, mehrere Feiertage gestrichen. Die Maßnahmen führten zu einer Entlastung der Wirtschaft, die Konjunktur sprang an, seit 2015 wächst die Wirtschaft wieder. Gleichzeitig wies die Handelsbilanz erstmals seit vielen Jahren wieder Überschüsse aus. Die Arbeitslosigkeit, die auf 18 Prozent geklettert war, halbierte sich innerhalb von vier Jahren; die Regierung förderte Firmengründungen, besonders von Start-ups im IT-Bereich.

Costa machte als Regierungschef die Streichung der Feiertage rückgängig. Auch setzte er die Erhöhung des Mindestlohns in mehreren Schritten auf 600 Euro durch, ebenso gilt für Beamte wieder die 35-Stunden-Woche. Doch den Kern des Sparprogramms seines Vorgängers rührte er nicht an, auch wenn er immer wieder das Gegenteil erklärte: Der parteilose Finanzminister Mário Centeno verringerte konsequent das Haushaltsdefizit und erfüllte damit die Vorgaben aus Brüssel - was ihm den Respekt der anderen Finanzminister der Euro-Gruppe brachte. Sie wählten ihn Ende 2017 zu ihrem Vorsitzenden.

Möglich war dieser Sparkurs aber nur über eine Erhöhung der Verbrauchssteuern sowie Einsparungen bei öffentlichen Dienstleistungen, vor allem im Gesundheits- und im Bildungswesen. Diese Maßnahmen treffen besonders die sozial schwächeren Schichten. So warten Patienten im staatlichen Gesundheitsdienst mitunter mehr als ein Jahr auf einen Termin beim Facharzt, und an weiterführenden Schulen müssen die Eltern die Schulbücher selbst bezahlen. Ebenso wurde wenig in die Modernisierung der Infrastruktur investiert. Wegen dieses Investitionsstaus war etwa die Feuerwehr bei den großen Waldbränden 2017 überfordert.

Auch erlebten viele Neurentner eine Überraschung: Sie bekamen die ersten Renten erst nach einem halben Jahr ausgezahlt; ob der Grund im Personalmangel der Verwaltung zu suchen ist oder aber im Bestreben des Finanzministeriums, die staatlichen Bilanzen zu schönen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche werfen Costa und Centeno sogar Kalkül vor: In den Genuss von Wohltaten kämen die Angestellten des öffentlichen Dienstes, weil diese traditionell eher links wählen und außerdem in Gewerkschaften stark organisiert sind. Hingegen sind die Kleinunternehmer, die das Rückgrat der Volkswirtschaft bilden und mit ihrem Steueraufkommen den immer noch sehr großen öffentlichen Dienst finanzieren, kaum organisiert und können daher auf die Regierung nur wenig Druck ausüben.

Das Kabinett Costa hat bislang keine Lösung für den hohen Anteil prekärer Arbeit gefunden

Doch ausgerechnet von den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ging nun die neue Streikwelle aus, sie forderten angesichts des Aufschwungs ihren Anteil an den gestiegenen Einnahmen des Staates. So versah das medizinische Personal vorübergehend nur Notdienste, Lehrer streikten. Sie verlangen einen Ausgleich dafür, dass sie während der Austerität Abstriche hinnehmen mussten. Centeno nannte die Forderungen unfinanzierbar, Costa drohte Anfang Mai sogar mit Rücktritt. So weit ist es nicht gekommen: Nach anfänglichem Zögern sicherten ihm die oppositionellen Konservativen ihre Unterstützung zu. Wieder ist es Costa gelungen, mit einer Schaukelpolitik zwischen konservativen und linksextremen Oppositionsparteien auch im vierten Jahr stabil zu regieren, obwohl die Sozialisten nur über 86 der 230 Sitze im Parlament verfügen.

Doch stößt dieser Regierungsstil zunehmend an Grenzen. Denn die Konjunktur flaut ab. Zwar wachsen die Einnahmen aus dem Export und dem Tourismus weiter, ebenso wie die Investitionen aus dem Ausland, doch die Zuwachsraten verkleinern sich spürbar. Zudem konnte die Staatsverschuldung nicht verringert werden, und der Anteil an faulen Krediten in den Bankbilanzen ist immer noch hoch. Überdies hat das Kabinett Costa bislang keine Lösung für den hohen Anteil an prekären Arbeitsverhältnissen gefunden, 90 Prozent der Berufsanfänger finden keine feste Stellung. Sogar rund 100 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes haben nur Zeitverträge.

Immer wieder wird deshalb der Ruf nach staatlichen Konjunkturprogrammen laut - vor allem von den linksextremen Oppositionsparteien. Sie setzen darauf, dass im Herbst in Portugal ein neues Parlament gewählt wird. Costa lächelt die Forderungen bislang weg - wie schon so oft. Er kann sicher sein, dass die Angestellten des öffentlichen Dienstes, die nun auf die Straße gingen, ihn im Herbst wiederwählen werden. Denn sollten die Konservativen die Wahlen gewinnen, so würden diese vor allem wieder im öffentlichen Dienst den Rotstift ansetzen, das wissen die Gewerkschaften. Das gute Ergebnis seiner PS bei der Europawahl von 33,4 Prozent dürfte ihn in dieser Überzeugung noch bestätigt haben.

Costa gelingt damit eine Art Quadratur des Kreises: Er lässt sparen, erweckt aber erfolgreich den Eindruck, das Gegenteil zu tun. Zumindest bis zu den Wahlen im Herbst.

© SZ vom 11.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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