Wie Rückversicherer Risiken aufspüren:Kalkulatoren des Untergangs

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Seit etwa 30 Jahren berechnet die Münchener Rück den Ablauf künftiger Naturkatastrophen, das klappte bislang ganz gut - bis der Wirbelsturm "Katrina" kam.

Martin Reim

München - Das noble Hotel Le Meridien Beach Plaza liegt am westlichen Ende des Kleinstaates Monaco, in einer weit geschwungenen Bucht. Aus der obersten Etage bietet sich eine Szenerie, die aus einem exklusiven Reiseprospekt stammen könnte: strahlender Sonnenschein, makelloser Sandstrand, mächtige Palmen, tiefblaues Meer, weiße Segelschiffe.

Münchner Rück Gebäude in München-Schwabing (Foto: Foto: dpa)

Passender wäre allerdings, es zögen gewaltige Wolken auf, Sturm peitschte die Bäume, mächtige Wellen rollten heran und würfen die Boote weit ins Land hinein. Denn drinnen im Salon Zephyr, bei einer Pressekonferenz des Rückversicherers Hannover Rück, geht es um die Zerstörungen, die der Hurrikan Katrina entlang der Küste des amerikanischen Bundesstaats Louisiana angerichtet hat.

Die Manager des Unternehmens hatten sich ihren Auftritt an der Cote d'Azur sicherlich anders vorgestellt. Branchenvertreter aus der ganzen Welt treffen sich dort traditionell Mitte September, um Verträge für das kommende Jahr auszuhandeln und sich selbst im besten Licht erscheinen zu lassen.

Vor oder nach "Katrina"

Und so verteilen die Pressedamen der Hannover Rück Manuskripte, die vor Optimismus nur so sprühen. Allerdings gesteht Vorstandschef Wilhelm Zeller in seiner Rede ein, dass die meisten Papiere mittlerweile Makulatur sind. "Jeder zweite Satz in Monaco beginnt mit 'vor Katrina' oder 'nach Katrina'", sagt er mit einem Lächeln, das leicht gequält wirkt.

Zeller tritt in gehobener Freizeitkleidung auf - Polo-Shirt und helle Bundfaltenhose, weder Jackett noch Krawatte. Das ist so üblich bei dem Branchentreffen, das vor Jahrzehnten entstanden ist, als britische und französische Versicherungsmanager ihren Urlaub an der Cote d'Azur nutzten, um Geschäfte zu machen.

Doch trotz des legeren Auftretens wirkt der 61-Jährige angespannt. Er weist einige skeptische Journalisten zurecht, sie sollten nicht so tun, als würde der angepeilte Jahresüberschuss des Unternehmens durch den Wirbelsturm gänzlich "ausgelöscht". Allerdings muss der Vorstandschef einräumen, dass das Unternehmen seine Gewinnvorstellungen für 2005 möglicherweise erneut reduzieren muss.

Kostspieligstes Ereignis ihrer Geschichte

Der Grund für die schlechte Laune: Einerseits ist klar, dass die Katastrophe sehr teuer wird. Manche Experten rechnen für die gesamte Versicherungswirtschaft bereits mit Forderungen in Höhe von 40 bis 60 Milliarden Dollar. Damit würde der Hurrikan das kostspieligste Ereignis ihrer Geschichte. An Nummer eins standen bislang die Attentate des 11. September 2001.

Andererseits ist auch Wochen nach dem Wirbelsturm nicht klar, was Katrina genau kosten wird. Diese Unwissenheit ist peinlich für Unternehmen, zu deren obersten Zielen es gehört, die Gefahren dieser Welt möglichst exakt zu erfassen. Denn nur dann lassen sich diese Risiken auch professionell versichern. Großschäden durch Menschen, beispielsweise durch Terroristen, gelten dabei als weitgehend unkalkulierbar; Naturkatastrophen glaubt man jedoch relativ gut vorwegnehmen zu können.

Auch der weltgrößte Rückversicherer lag diesmal daneben. "Der Dammbruch war in unseren Modellen nicht enthalten", sagt Ernst Rauch, Sturm-Experte bei der Münchener Rück. Schätzungen des Schadens seien auch deshalb schwierig, weil nach wie vor unklar sei, wer in welcher Höhe für was haftet.

Was könnte ein Erdbeben in Venezuela ausrichten? (Foto: Foto: ddp)

Auf einen Sturm an der Küste von Louisiana "mit dem Schadensausmaß von Katrina" sei seine Abteilung allerdings vorbereitet gewesen, sagt Rauch. Deshalb sei absehbar, "dass die Gesamtschäden eines Hurrikans in der Region New Orleans innerhalb der Erwartungen der Münchener Rück liegen".

Korrekte Modelle zu bauen ist eminent wichtig für Versicherer, weil sie abschätzen helfen, welche finanziellen Folgen ein Engagement in einer bestimmten Region und bei bestimmten Geschäften haben kann. Die meisten Firmen kaufen sich solche Informationen überwiegend oder ausschließlich von Spezialanbietern zu, nur eine Hand voll von Versicherern macht den Hauptteil der Arbeit im eigenen Haus - beispielsweise die Münchener Rück.

Deren Georisiko-Forschung sitzt in der Konzernzentrale im Münchner Stadtteil Schwabing. In den Gängen der Abteilung hängen Statistiken über Erdbeben, Überschwemmungen und Stürme. Das auffälligste Interieur in den Zimmern sind große Weltkarten an der Wand und Globen auf den Tischen.

Damit hat es eine besondere Bewandtnis. "Sie sind die Zusammenfassung unserer Arbeit", sagt der stellvertretende Bereichsleiter Anselm Smolka. Die so genannte Weltkarte der Naturgefahren, versehen mit dem Copyright der Münchener Rück, zeigt vieles von dem, was die Forscher in Jahrzehnten zusammengetragen haben: Zugstrecken von Hurrikanen, Taifunen und europäischen Winterstürmen, Regionen mit farblich abgestuften Wahrscheinlichkeiten von Erdbeben und Tsunami-gefährdete Küsten.

Auch im Büro von Dirk Hollnack hängt eine solche Darstellung. Bei dem promovierten Geologen sieht man sofort, dass er keine Versicherungen verkauft. Statt Anzug und Krawatte trägt er ein legeres Jackett und offenen Hemdkragen. Der 45-Jährige vermutet, dass es bei einer Neuauflage der Karte durch Katrina keine Änderungen geben werde.

"Der hat ja fast genau den Weg genommen, der hier eingezeichnet ist", sagt er und fährt mit dem Finger über einen dicken grünen Pfeil, der auf New Orleans zuläuft. Dann deutet Hollnack auf die Küste Nord-Thailands und die Westseite von Sri Lanka: "Hier müssten wir wohl etwas zusätzlich einzeichnen." Der Tsunami zum Jahresende 2004 habe auch Regionen überrollt, die bislang noch nie von einem solchen Naturereignis betroffen waren.

Hollnack beschäftigt sich derzeit mit der Frage, was Erdbeben in Venezuela anrichten könnten. Es ist ungefähr das zehnte Ländermodell, das der Forscher für die Münchener Rück baut. Hauptgrund für dieses Projekt: Gerade in Caracas, der Hauptstadt des südamerikanischen Staates, gibt es eine beachtliche Konzentration von Werten, an deren Versicherung das Unternehmen beteiligt ist.

Die alte Modellierung ist schon einige Jahre alt, da muss eine Auffrischung her. Auf dem Flachbildschirm des Computers ist eine bunte Karte des Landes zu sehen, mit denen der Wissenschaftler verschiedenste Dinge anstellen kann: zoomen, Orte und Intensität früherer Beben auflegen, Regionen hoher Aktivität identifizieren.

Das Material für diese Darstellungen stammt aus hauseigenen und fremden Datenquellen, vor allem aus Universitäten. Doch ist es mit der Arbeit am Schreibtisch nicht getan. Hollnack flog im Zuge des mehrwöchigen Projekts nach Venezuela, um wissenschaftliche Kontakte zu knüpfen und zu vertiefen.

Der Forscher wollte aber auch "ein Gefühl dafür bekommen, ob stimmen kann, was ich gemacht habe". In diesem Falle habe der eigene Eindruck seine Erwartungen bestätigt.

Aus Schaden lernen

Auch Sturm-Experte Rauch verließ sich nicht auf das, was er aus zweiter Hand über die Katastrophe von New Orleans erfahren hatte, sondern reiste mit zwei Kollegen nach Louisiana. "Ein Hauptziel war, den Schaden besser einschätzen zu können, ein anderes, zu untersuchen, ob man aus ihm Neues lernen kann", sagt der diplomierte Geophysiker.

Mögliches Lernfeld sei zum einen die Tatsache des Deichbruchs, zum anderen das Schadensbild entlang der Küste: "Dort sah es über eine Strecke von 150 Kilometern aus wie nach einem Tsunami." Nächster Schritt sei die Entscheidung, was von den zusätzlichen Erkenntnissen in die Modelle übernommen wird.

Fühlt sich der Wissenschaftler Rauch generell so, als würde er der Natur hinterherhecheln, weil es in der Realität doch ganz anders läuft als im Modell? Der 45-Jährige mit bayerischem Akzent verneint. "In den meisten Fällen tritt ziemlich exakt das ein, was wir vorhergesagt haben."

So habe man nach der "reichlich ungewöhnlichen" Serie von vier verheerenden Hurrikanen im vergangenen Jahr rasch eine korrekte Schadensschätzung abgegeben. Der letzte Ausreißer vor der Flut von New Orleans sei 1990 passiert, als eine außerordentlich hohe Zahl von Winterstürmen in Europa auftrat.

Das Erforschen von Klimaphänomenen hat in der Abteilung die längste Tradition. 1974 begann die Arbeit mit einem einzigen Forscher, Gerhard Berz. Als er Ende vergangenen Jahres als Leiter ausschied, verließ er eine Abteilung, die mit knapp 30 Angestellten mittlerweile wohl die größte ihrer Art in der Branche ist.

Berz hatte sich und seinen Bereich weithin bekannt gemacht. Der promovierte Meteorologe war der vermutlich erste Wissenschaftler bei einer Versicherung, der öffentlich vor den Folgen eines menschengemachten Klimawandels warnte. Am Anfang, so sagen Insider, stieß er selbst im eigenen Haus auf einiges Unverständnis. "Inzwischen ist das Phänomen der globalen Erwärmung ein genuiner Teil unserer Überlegungen", sagt Rauch.

Nach seinen Angaben agiert die Münchener Rück generell eher vorsichtiger als die Mehrzahl der Konkurrenten. So veranschlage man die Schäden aus möglichen Sturmfluten an der amerikanischen Ostküste, rund um Japan und bei Hongkong höher als andere Unternehmen. "Das kann die Konsequenz haben, dass manches Geschäft nicht bei uns landet."

Doch langfristig korrekt zu kalkulieren, sei die Grundlage eines vernünftigen Rückversicherungs-Geschäfts.

Allerdings fließen nicht alle Modelle auch in die Prämienkalkulation ein. So beschäftigt sich Vize-Chef Smolka, ein promovierter Geologe, unter anderem mit der Frage, welche Zerstörungen der Einschlag eines Meteoriten in einem Weltmeer an den betroffenen Küsten auslösen würde.

"Das steht sicherlich nicht im Mittelpunkt unserer Forschung und auch nicht unseres Geschäfts", sagt der 55-Jährige. "Aber als Rückversicherer muss man sich, zumindest theoretisch, auch mit solchen Extremfällen auseinander setzen."

© SZ vom 17.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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