"Was ist mit dem Zucker?":Süße Halbwahrheiten

Lesezeit: 3 min

Mit schlauen Strategien nutzen Lebensmittelhersteller die Gesundheitswelle - jetzt soll ein europäisches Gesetz die Verbraucher schützen.

Cornelia Bolesch

Jim Murray ist ein erfahrener Verbraucherschützer. Seit sechzehn Jahren vertritt der blonde Ire im Umfeld der EU-Institutionen die Interessen von Millionen Konsumenten aus 28 europäischen Ländern. Murray wirkt wie ein gediegener Beamter.

(Foto: Foto: ddp)

Er arbeitet in einem unauffälligen Gebäude am Rande einer Ladengalerie. Dort klettert man eine enge Treppe hinauf und steht vor einer unansehnlichen grauen Tür und einem Schild mit dem Namen "BEUC" - die Abkürzung für "Bureau Européen des Unions de Consommateurs".

Dahinter öffnet sich ein labyrinthischer, schlecht belüfteter Bürotrakt, in dem Murrays Mitarbeiter gerade darüber diskutieren, ob es in den nächsten Wochen gelingen wird, jene Werbung abzuschaffen, die fette Schokolade, überzuckerte Joghurts oder salzige Cracker als besonders gesund anpreist.

"Das hat uns sehr überrascht"

Die Diskussion rund um die Frage, was die Werbung dem Kunden versprechen darf, geht in Brüssel in die entscheidende Runde. Auslöser ist ein Gesetzentwurf des Verbraucherschutzkommissars Markos Kyprianou. Unter dem spröden Titel "Gesundheitsbezogene Werbung" soll erstmals europaweit geregelt werden, wann ein Nahrungsmittelproduzent behaupten darf, sein Produkt sei gesund.

Ein Spruch wie "Kalzium ist gut für die Knochen" wäre danach erlaubt, weil die Aussage wissenschaftlich erwiesen ist. Schwieriger würde es dagegen für einen Hersteller, der seinen Joghurt mit Omega-3-Fettsäuren anreichert und mit der Behauptung anpreist: "Fördert die Konzentration". Er müsste sich das auf jeden Fall erst genehmigen lassen.

Wer eine gesundheitsfördernde Wirkung behauptet, muss wissenschaftlich auf der sicheren Seite sein. Darüber sind sich in Brüssel alle einig. Worüber Kommission, Ministerrat und Parlament aber seit Monaten erbittert streiten, ist die suggestive Kraft der Werbung. Es geht um Botschaften, die korrekt sind und dennoch einen falschen Eindruck hinterlassen. Es geht um Halbwahrheiten, die einem Produkt ein gesundes Image verschaffen, obwohl das gesamte "Nährwertprofil" - also die Anteile von Zucker, Fett oder Salz - etwas anderes verheißt.

Die Kommission meint, dass besonders fette Schokolade, extrem süße Joghurts oder salzreiche Cracker nicht damit angepriesen werden dürfen, dass sie auch Vitamine oder Kalzium enthalten. Die Mehrheit der EU-Regierungen im Ministerrat folgt bisher diesem Kurs. Das sonst so verbraucherfreundliche Europaparlament dagegen stimmte diese Vorschrift im vergangenen Jahr in erster Lesung nieder.

"Das hat uns sehr überrascht", kommentiert Jim Murray. Normalerweise könne seine Lobby auf die Europaabgeordneten zählen. Nun gehörten ausgerechnet Kommission und Regierungen "zum Lager der Engel", weil sie Gesundheitswerbung für ein Lebensmittel nur dann erlauben wollen, wenn dessen Nährwertprofil stimmt.

"Engel" - der bedächtige Mann gebraucht das Wort ganz bewusst. Für Murray und seinen Dachverband ist das geplante Gesetz ein Schlüsselprojekt für den Verbraucherschutz. In einem "Schwarzbuch" haben sie Negativbeispiele aus der EU, aber auch aus den USA zusammengetragen und kommentiert: Werbung für Schokogetränke, Müslis und Joghurts, die nach Ansicht der Brüsseler Verbraucherschutzunion und ihrer angeschlossenen nationalen Verbände so schnell wie möglich abgeschafft werden sollte.

Da macht Haribo die Verbraucherschützer alles andere als froh, wenn es seine Fruchtgummis mit Hilfe von Vitaminen, Kalzium oder Magnesium vermarktet und dabei verschweigt, dass 100 Gramm der Gummis über 70 Gramm Zucker enthalten. Die britische Lebensmittelbehörde hat bereits einen Anteil von 10 Gramm Zucker als hoch eingestuft. Oder Danones Activia Joghurt mit seinen Kulturen. "Es mag ja sein, dass der Joghurt die Verdauung fördert. Aber was ist mit dem Zucker?" Jim Murray will, dass die Verbraucher vor irreführender Werbung geschützt werden. Er weiß jedoch auch, dass er sich dabei gegen den Vorwurf wehren muss, er kümmere sich um Menschen, die das gar nicht nötig hätten, weil sie doch "mündig" seien und selbst entscheiden könnten.

"Das ist ein miserables, schlecht gemachtes Gesetz"

Der Jurist kann darüber nur lächeln. Jim Murrays Schwäche sind Süßigkeiten. Da muss er immer aufpassen, nicht zu viel einzukaufen. Umso mehr ärgert er sich im Supermarkt über die schlauen Strategien der Schokolade- und Bonbonhersteller, die immer geschickter auf der Gesundheitswelle surfen. Er kann sich hineindenken in Eltern, die glauben, ihren Kindern etwas Gutes zu tun, wenn sie ihnen "gesunde" Süßigkeiten oder Frühstücksmüslis kaufen. Umfragen der Verbraucherschützer hätten zudem gezeigt, dass viele Käufer dieser Werbung vertrauen und ein Produkt mit "gesunden" Bestandteilen bevorzugen.

Auch in Deutschland hat die Verbraucherzentrale Bundesverband im Verein mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte gegen irreführende Gesundheitswerbung protestiert, die vor allem auf Kinder zielt. "Die Zusätze ändern an der negativen Ernährungsbilanz des Produkts überhaupt nichts", argumentierte der Präsident des Kinderärzteverbands, Wolfgang Hartmann. Er warnte vor den Folgen von Fehlernährung. "Zehn bis fünfzehn Prozent der Schulkinder sind bei der Einschulung übergewichtig. Bei den Erwachsenen ist der Anteil wesentlich höher."

Im EU-Ministerrat hat die Bundesregierung den Entwurf der Kommission bislang unterstützt. Im Parlament aber sind es vor allem deutsche Sozialdemokraten, die strikt dagegen sind. "Das ist ein miserables, schlecht gemachtes Gesetz", empört sich die Verbraucherschutz-Expertin Dagmar Roth-Behrendt. "Niemand weiß doch, was ein Nährwertprofil ist und wie man das erstellt." Sollte das Gesetz dennoch zustande kommen, rechnet sie fest mit Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. "Die Kommission überzieht ihre Kompetenzen", meint sie. "Hier geht es nicht um den Binnenmarkt, sondern um Gesundheitspädagogik."

Jim Murray dagegen hofft, dass sich eine Mehrheit im Parlament in der Mai-Sitzung auf die "Seite der Engel" stellt und - wie bereits in zweiter Lesung der Umweltausschuss - für die Nährwertprofile stimmt. Die Verbraucherschützer wollen jetzt vor allem Abgeordnete aus Spanien, Italien und Portugal bearbeiten - "die kommen schließlich aus Ländern mit einer Esskultur".

© SZ vom 22.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: