Wall Street in Aufruhr:In letzter Minute

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Dramatische Kehrtwende in Washington: Nach langem Zögern springt die US-Regierung dem taumelnden Versicherungskonzern AIG nun doch zur Seite - mit zig Milliarden.

Moritz Koch, New York

Finanzminister Henry Paulson und Zentralbankchef Ben Bernanke wollen der American International Group (AIG) einen Überbrückungskredit von 85 Milliarden Dollar gewähren. Die Rettung kommt in letzter Sekunde. Die Geldnot von AIG hatte sich gestern dramatisch zugespitzt, nachdem Ratingagenturen die Einschätzung der Kreditwürdigkeit des Konzerns gesenkt hatten. Ohne staatliche Hilfe hätte AIG wahrscheinlich noch am Mittwoch Konkurs anmelden müssen.

AIG ist auch in Japan aktiv: Ein Milliardenkredit gibt dem Versicherungsriesen vorläufig Sicherheit. (Foto: Foto: dpa)

Bis zuletzt schien es, als wolle Washington auf dem neuen Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise Härte demonstrieren. Am Wochenende hatten Regierung und Zentralbank der Investmentbank Lehman Brothers Garantien verweigert und sie damit in die Pleite gestürzt. Doch AIG ist ungleich größer als Lehman und noch enger in das globale Finanzsystem eingebunden. Der Konzern beschäftigt 100.000 Mitarbeiter in etwa 130 Ländern. Sein Angebot reicht von Lebensversicherungen über Kreditgarantien bis hin zur Verpachtung von Flugzeugen.

Katastrophe befürchtet

Paulson und Bernanke mussten eine desaströse Kettenreaktion befürchten, wären sie ihrer neuen harten Linie gegen Staatshilfen treu geblieben. Es drohte die Implosion der Finanzmärkte. Alle Versuche der Regierung, Privatbanken und andere Investoren dazu zu bewegen, AIG Geld zu leihen, scheiterten am Dienstag. Offenbar glaubt die Finanzbranche, dass der Konzern selbst mit einem neuen Kredit der Zahlungsunfähigkeit nicht wird entgehen können.

Für die zumindest vorübergehende Rettung durch den Staates muss AIG nun einen hohen Preis zahlen. Die Regierung beschlagnahmt 80 Prozent des Aktienkapitals. Diese Absicherung solle die "Interessen der US-Regierung und der amerikanischen Steuerzahler" schützen, meldete die Notenbank. Damit kontrolliert Washington einen der größten privaten Finanzkonzerne der Welt - ein einmaliger Fall in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Sollten sich AIG und ihr Aktienkurs eines Tages erholen, würde der Staat einen enormen Profit machen. Trotzdem stimmte der Verwaltungsrat von AIG den Regierungsplänen zu. Von Seiten der Zentralbank hieß es: Der Kredit ermögliche es dem Konzern, sich von bestimmten Geschäftsbereichen mit der geringstmöglichen Störung der Gesamtwirtschaft zu trennen.

Noch am Abend unterrichteten Paulson und Bernanke in einer Sondersitzung den US-Kongress über ihre Entscheidung. Mehrere Senatoren, wie Harry Reid (Demokrat, Nevada) und Richard Shelby (Republikaner, Alabama), bohrten sie mit Fragen: Wo sollen die Staatseingriffe enden? Wer entscheidet, welcher Konzern wichtig genug ist, um gerettet zu werden? Am Ende aber nickten die Abgeordneten den staatlichen Zugriff ab.

AIG versuchte derweil, die Sorgen der Bürger um ihren Versicherungsschutz zu zerstreuen. Das Versicherungs- und Rentengeschäft des Konzerns sei "vollkommen fähig, seine Verpflichtungen gegenüber den Versicherungsnehmern einzuhalten". Die Versuche, kurzfristig an Geld zu kommen, hätten zu keinem Zeitpunkt beinhaltet, Kapital von Firmentöchtern einzutreiben oder das lukrative Asiengeschäft anzuzapfen. Asien ist neben Amerika der größte Markt für AIG. Dort reagierten die Anleger erleichtert über die Nachrichten aus den USA. In Japan etwa stieg der Nikkei-Index um mehr als zwei Prozent.

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